Peeling und Poker (Aargauer Kriminalromane) (German Edition)
„Ihre tüchtigen Mitarbeiterinnen sorgen gut fürs Geschäft, machen Sie sich keine Gedanken, schlafen Sie wie ein kleines Kind und erholen Sie sich vom Gewittersturm in Ihrem Kopf. Bis später.“
Das ist leichter gesagt als getan, Herr Doktor, dachte Marina. Als selbständige Geschäftsfrau ist man immer allein für alles verantwortlich, man kann es sich im Grunde gar nicht leisten, krank zu sein. Ich habe zwar mittlerweile gelernt, mit diesen Anfällen zu leben, dachte sie, aber das schlechte Gewissen plagt mich jedes Mal, wenn Nicole für mich einspringen muss. Insgeheim zweifle ich daran, dass sie wirklich eine adäquate Stellvertreterin ist, was allerdings vielleicht mehr mit mir selber zu tun hat als mit ihr. Sie erinnerte sich an das Bonmot eines Psychologen, der selbst unter Migräne litt: wir Migräniker sind keine Perfektionisten, wir wollen die Dinge nur genau so haben, wie wir sie uns vorstellen. Trifft auch auf mich zu und erschwert mein Leben manchmal sehr, dachte Marina und schlief endlich ein.
Zwei Stunden später öffnete Doktor Hivatal leise die Türe. Marina hatte sich aufgesetzt und streckte sich wie eine Katze: „Ich fühle mich wie ein neuer Mensch, Herr Doktor – herzlichen Dank, einmal mehr“, sagte sie gähnend und stand auf. „Jetzt kann ich mich wieder meinen Pflichten zuwenden und im ersten Stock zum Rechten sehen.“
„Jetzt mal langsam, Frau Manz“, antwortete der Arzt, „Sie nehmen sich am besten den Tag frei und gehen nach Hause. Die Migräne ist unter Umständen nur unterdrückt und kann wieder ausbrechen, wenn Sie sich anstrengen, das wissen Sie. Setzen Sie sich bitte wieder hin.“
Er mass nochmals den Blutdruck, liess seinen Zeigefinger vor ihren Augen hin- und herwandern, prüfte ihre Reflexe. „Alles in Ordnung. Trotzdem, die Anfälle sind wieder häufiger geworden, und darüber müssen wir uns gelegentlich unterhalten. Sie arbeiten sehr viel, ihr Licht brennt, wenn ich am Morgen komme und Sie sind immer noch da, wenn ich meine Praxis abends um sieben oder acht Uhr wieder verlasse. Bei Ihrer Veranlagung setzt sich der Arbeitsdruck im Kopf fest und entlädt sich periodisch, so wie heute. Überlegen Sie sich, ob ein normaler Arbeitstag von acht Stunden nicht auch genügen würde. Heute wird auf jeden Fall nicht gearbeitet, ich habe Ihren Mitarbeiterinnen bereits mitgeteilt, dass sie erst morgen wieder mit Ihnen rechnen können. Essen Sie, worauf Sie Lust haben, trinken Sie viel und schlafen oder dösen Sie möglichst den ganzen Tag. Gute Besserung!“
Voller Energie und mit wehendem weissem Mantel schritt er hinaus – welche Vitalität, dachte Marina, für einen Siebzigjährigen. Sie spürte, wie wenig Kraft sie selbst hatte, und folgte seinem Rat: ohne im ersten Stock Halt zu machen, fuhr sie mit dem Lift nach unten und ging durch den kalten Novemberwind zu Fuss nach Hause.
*
„Was, am ersten Jahrestag der Entlassung? So ein Blödsinn!“ Peter Pfister lehnte sich lachend in seinem Bürostuhl zurück und kippte dabei beinahe um. „Die Herrschaften in Königsfelden lassen doch ihre Patienten nicht mit einem Küchenmesser in der Hand frei durch die Gegend laufen, das wäre ja noch schöner! Unsere Bürger können sich ja sowieso kaum mehr sicher fühlen mit all den Schnappmessern, die die Ausländer mit sich herumtragen, und dann noch die Verrückten dazu, wo kämen wir da hin. Nein, also ich glaube nicht, dass die Senn etwas mit dem Tod von Truninger zu tun hat.“
„Es heisst psychisch Kranke, nicht Verrückte, Peter.“ Angela Kaufmann schaute ihren Kollegen streng an. „Gerade wir Polizisten müssen unsere Worte sorgfältig auswählen, sonst werden wir sofort in die braune und rassistische Ecke gestellt.“
„Schon gut, Angela, dann kann ich ja gerade so gut von den geistig und seelisch Herausgeforderten reden, und das ist dann politisch so korrekt, dass es keiner mehr versteht. Für mich sind die Insassen der Irrenanstalt Königsfelden immer noch verrückt, und damit basta.“ Er faltete seine Hände über dem Bauch und amüsierte sich darüber, wie sie nach Luft schnappte. Er liebte es, seine junge Kollegin auf den Arm zu nehmen, und sie fiel immer wieder darauf herein.
Nick intervenierte. „Lasst das, ihr zwei, wir sind nicht im Kindergarten. Sybille Senn war mindestens so krank wie jemand, der an Krebs leidet, und ihre Krankheit war tödlich, wie wir wissen. Ertrunken ist sie irgendwann am Dienstag 6. oder Mittwoch 7. November, genauer will sich
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