Peeling und Poker (Aargauer Kriminalromane) (German Edition)
der Arzt nicht festlegen; die Klinik meldete sie als vermisst am Donnerstag Morgen, und gefunden wurde sie am Freitag Nachmittag. Über ihre Aktivitäten in den Tagen davor wissen wir bis jetzt nichts; sie lebte stationär in der offenen Abteilung, konnte sich also relativ frei bewegen und durfte das Areal während des Tages verlassen. Ihre betreuende Ärztin ist in einem Weiterbildungsseminar, und mit dem Stellvertreter kann ich erst morgen sprechen, wenn er sich mit der Ärztin in Verbindung gesetzt hat. Der Ehemann befindet sich in der Antarktis auf einer Kreuzfahrt; er wurde benachrichtigt und kommt so rasch wie möglich nach Hause. Rein theoretisch wäre es also möglich, dass sich Sybille Senn am Jahrestag ihrer Kündigung ein Küchenmesser beschaffte, sich in einen Zug nach Aarau setzte, auf irgendeine Art und Weise ungesehen in den Bürotrakt des Casinos gelangte und ihren Peiniger mit zwei gezielten Stichen von hinten tötete. Sie realisierte vielleicht erst nach der Tat, was das für sie bedeutete, und stürzte sich danach von einer Brücke. Ein gutes Motiv für den Mord hatte sie, denn sie könnte geglaubt haben, Truninger habe ihr Leben zerstört und sie in die Krankheit getrieben. Die Ärzte werde uns hoffentlich sagen können, ob sie auch in der Lage gewesen wäre, diese Tat zu begehen. Ich persönlich neige im Moment eher zur Ansicht, dass die beiden sich zwar kannten, dass aber zwischen dem Mord und dem Selbstmord kein Zusammenhang besteht. Was ist mit den anderen Personen, die Truninger entlassen hat?“
Angela holte die Unterlagen von ihrem Tisch und stellte sich an die Pinnwand. „Franz Fritschi, der Gärtner, der zuviel trank, arbeitet auf einem anthroposophisch geführten Bauernhof in der Provence. Er hat mir am Telefon bestätigt, dass er Truninger heute dankbar sei für den Rausschmiss, denn die Kündigung habe die Wende zu einem positiven Leben im Einklang mit der Natur eingeläutet. Der Leiter des Bauernhofs ist sicher, dass Fritschi zur fraglichen Zeit nie länger als zwei oder drei Stunden abwesend war.“
Sie steckte eine grüne Karte mit der Beschriftung Fritschi – Gärtner an die Wand. „Er kommt meines Erachtens nicht in Frage. Der Croupier, der einige Tausend Franken veruntreute, heisst Martin Schmidt und kam ursprünglich aus Deutschland. Als er den Job bei Truninger verlor, ging er zurück in seinen gelernten Beruf als Koch und heuerte auf einem Frachtschiff an. Dann lernte er auf Madagaskar eine Frau kennen und blieb bei ihr. Heute produziert und verkauft er dort Solarkocher, damit die Abholzung der Wälder nicht noch weiter fortschreitet. Die Technologie und das Geld für die Fabrik kommen von einem Schweizer Ingenieur, der damit seine individuelle Art von Entwicklungshilfe betreibt. Finde ich eine ganz tolle Idee, übrigens.“
„Was es nicht alles gibt auf dieser Welt“, seufzte Pfister, „da bin ich ja wirklich wieder dankbar für meinen Glaskeramikherd. Aber der Solarkoch hatte wohl keine Gelegenheit, husch husch einen Mord in Aarau zu verüben.“
„Nein, die hatte er nicht, und wie es scheint, brach er alle Kontakte zu ehemaligen Freunden und Bekannten in der Schweiz ab, mit Ausnahme des Ingenieurs. Der ist aber im Moment in Madagaskar und inspiziert sein Hilfswerk – ganz sicher nicht ohne seinen lokalen Kontaktmann. Ich denke, ihn können wir auch vergessen.“ Und sie nagelte eine weitere grüne Karte an die Wand: Schmidt – Croupier.
„Jetzt zu unserer Bardame mit Beziehungen zur Unterwelt, Melanie Weber. Sie ist seit einem halben Jahr verheiratet, ihr Mann ist Sanitärinstallateur und sie selbst betreibt ein kleines Nagelstudio hier in Aarau, in ihrem Einfamilienhaus am Stritengässli.“
„Ach, deshalb sind deine Hände heute so gepflegt!“ bemerkte Pfister grinsend.
„Das sind sie auch sonst, lieber Kollege. Jedenfalls behauptet sie, die Albanien-Connection sei längst nicht so wichtig gewesen wie Truninger glaubte, und überhaupt habe sie keinen Kontakt mehr zu diesen Leuten. Ja, sie sei damals sehr wütend gewesen auf Truninger und habe sich überlegt, ob sie einen ihrer Freunde bitten solle, ihn ein wenig zu erschrecken, mit einem Messer oder so. Dann habe sie aber bald ihren jetzigen Mann kennen gelernt und beschlossen, die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen. Ob das allerdings wirklich so genau stimmt, stelle ich in Frage, denn während unseres Gesprächs fuhr ein grosser BMW vor, hupte, und sie rannte sofort hinaus. Der Fahrer sah
Weitere Kostenlose Bücher