Peetz, Monika
von Eva.
Luc hätte
seinem neugierigen Sohn stundenlang Geschichten erzählen können. Doch er
schwieg wie ein Grab. Der Restaurantbesitzer war klug genug, die Frauen nie
merken zu lassen, wie viel sie unbeabsichtigt preisgaben. Luc war der
verschwiegene Begleiter und Bewunderer der Dienstagsfrauen, das Le Jardin ihr
Beichtstuhl.
Der Tisch
war perfekt gedeckt, der Koch in Startposition, die Kerzen halb
heruntergebrannt.
»Wo
bleiben sie denn?«
Unruhig
kontrollierte Luc die Uhr. Viertel nach acht.
Es war
durchaus gebräuchlich, dass Gruppen aus dem nahen Institut Francais im Le
Jardin einkehrten. Ungewöhnlich war, dass daraus eine Freundschaft fürs Leben
wuchs. Ganz und gar unüblich war allerdings, dass der Tisch der Dienstagsfrauen
an diesem Tag leer blieb.
Als Luc
kurz nach elf sein Restaurant abschloss, ohne dass Caroline oder eine der
anderen sich gemeldet hatte, wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war. So
nicht in Ordnung, wie er es in fünfzehn Jahren noch nicht erlebt hatte.
2
»Wir
müssen Luc absagen.« Vor ein paar Tagen hatten die Freundinnen noch darüber gesprochen.
Als der Dienstag anbrach, dachte keine der Frauen mehr daran.
Arne, der
heutige Mann ihrer Freundin Judith, lag im vierten Stock des Kölner
Sankt-Josef-Hospitals. »Der vierte Stock«, mit diesen verharmlosenden Worten
umschrieben Ärzte und Pflegepersonal allzu freundlich den Trakt mit den
Sterbezimmern. Alles war hier gedämpft. Das Licht, die Stimmen, vor allem aber
die Erwartungen. Im vierten Stock wartete man auf den Tod. Arne wartete seit
sechs Tagen. Und mit ihm Judith und ihre Freundinnen von der Dienstagsrunde,
die sich an ihrer Seite abwechselten.
Arnes
Krankheit war wie eine Achterbahnfahrt. Jeder Schwung nach oben entpuppte sich
als Illusion. Man wurde aufwärtsgezogen, um danach in rasantem Tempo ins Bodenlose
zu stürzen. Die schlechten Nachrichten schlugen in schneller Folge ein:
»Inoperabel.«
»Miserable
Blutwerte.«
»Chemo
schlägt nicht an.«
»Nur noch
eine Frage der Zeit.«
Neunzehn
Monate war das her. Neunzehn Monate, in denen Arne und Judith das Thema
Sterben vermieden hatten, wo sie nur konnten. Judith versuchte den Gedanken, dass
Arne bald nicht mehr an ihrer Seite sein würde, beiseitezuschieben. Das Ende
sollte trotzdem kommen.
»Wir
müssen dafür sorgen, dass immer eine von uns bei Judith ist«, hatte Eva
angeregt und die Dienstagsfrauen rund um die Uhr in Schichten eingeteilt. Und
doch war sie die Erste, die ausscherte. Lene, Evas dreizehnjährige Tochter,
wirbelte den Zeitplan ihrer Mutter mit einem unfreiwilligen Salto vom Fahrrad
durcheinander, der ihr einen wackelnden Schneidezahn einbrachte. Eva konnte sie
in dieser Situation unmöglich alleine lassen.
»Kannst du
rasch einspringen?«, hatte Eva an Caroline getextet.
»Ich mache
kurzen Prozess«, versprach die Strafanwältin, die mitten in einer Verhandlung
war.
Noch bevor
die Ablösung da war, musste Eva sich verabschieden. So geschah das, was alle
hatten verhindern wollen: Judith war zum ersten Mal ganz alleine im vierten
Stock. Mit sich und der Angst.
»Wir
machen Abschied für Familie so intim möglich!«, versprach die robuste
Schwester mit hartem osteuropäischen Akzent. Nur ab und an wechselte sie die
Infusionen und brachte Tee für Judith, der verdächtig nach Rum roch.
»Illegal,
aber gut«, raunte die Frau ihr verschwörerisch zu. »Angst in Alkohol löslich.«
»Vielen
Dank, Schwester ...«
Wie hieß
sie noch mal? Judith hätte die Frau gerne mit ihrem Namen angeredet, konnte
sich jedoch keinen Reim auf die abenteuerliche Konsonantenfolge machen, die auf
dem enormen tschechischen Schwesternbusen auf und ab wogte.
»Tschechen
sind extrem geizig mit Vokalen«, hatte Arne am ersten Tag in einem überraschend
klaren Moment gewitzelt: »Sie sollten mit den Finnen über die Herausgabe von
Vokalen verhandeln.« Judith lachte müde.
»Wirklich«,
insistierte Arne mit schwacher Stimme, »nimm das Wort Eiscreme: Die Tschechen
sagen >zmrzlina<. Und die Finnen? >Jäätelöä.<«
Judith
hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Sie verstand nur zu gut, worum es Arne
wirklich ging: Selbst auf dem Sterbebett versuchte er Judith aufzumuntern. Bis
ihn die Kräfte verließen.
Hilflos
musste Judith ansehen, wie Arne matter werdend in die Kissen sank, die Nase
spitzer, seine Atmung flacher wurde. Seine Hände flatterten, als wollten sie
wegfliegen. Mit jeder Minute mehr entschwand der große, starke Mann, in den
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