Pelagia und der rote Hahn
doch nicht etwa Materialistin?«
»Nein.«
»Und warum wundern Sie sich dann so? Sie haben sich erschrocken, das ist nur verständlich, aber warum sollten Sie sich wundern? Sie sehen doch selbst, wo wir hier sind.« Mit einer ausholenden Geste umfing er die tiefe Dunkelheit, in die sich der Wald des Nachts einhüllte. »Wo soll schließlich das Böse, Unheimliche, Ungeheure hausen, wenn nicht in den Tiefen des Wassers und im Dickicht der Wälder?«
»Scherzen Sie?«, fragte Pelagia leise.
Sergej Sergejewitsch seufzte.
»Sie sind doch Nonne, also sagen Sie, existieren Gott und die Engel?«
»Ja.«
»Also gibt es auch den Teufel mitsamt seinem Gefolge. Das ist der einzig mögliche logische Schluss. Die Existenz des Weißen ist unmöglich ohne die Existenz des Schwarzen«, sagte der bemerkenswerte Untersuchungsführer und beendete damit das Gespräch. »Na gut, gehen wir Tee trinken.«
IV
Nur ein Traum?
Der wilde Tatar
Am Abend des vierten Tages erreichten sie Stroganowka.
Das Dorf bestand aus einer Hand voll unansehnlicher Häuschen, über eine weitläufige Wiese verstreut, die man wahrscheinlich schon zu unvordenklichen Zeiten dem Wald abgerungen hatte.
Vor zwei – oder dreihundert Jahren war dieses Anwesen, wie schon aus seinem Namen hervorging, im Besitz der Kaufleute Stroganow gewesen, jener Stroganows, die Sibirien eroberten. Übrig geblieben war aus jenen Zeiten ein großes Geviert aus morschen Balken – die Reste einer Burg – sowie einige Dutzend Bergwerksstollen, die an das Salzwerk erinnerten, das es irgendwann einmal hier gegeben hatte.
In dieser Gegend lebten raue Männer mit langen Bärten, Nachkommen der Vogelfreien im Gefolge der Stroganows, herumstreunendes Gesindel, das sich schon im sechzehnten Jahrhundert, von der Freiheit und Ungebundenheit dieser Region angelockt, hier niedergelassen hatte. Dass diese Siedler nicht von der friedliebenden, Ackerbau treibenden Sorte waren, erkannte man sofort – sei es am Nichtvorhandensein bestellten Bodens, sei es an den winzigen, schießschartenartigen Fensterluken in ihren niedrigen Katen oder an den Fellen, die an den geflochtenen Zäunen zum Trocknen aufgehängt waren. Die Stroganowkaer waren keine Ackerbauern. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt als Waldarbeiter oder kratzten Salz aus den vorsintflutlichen Gruben: graues, schlechtes Salz, das sie den Bauern der umliegenden Gegend für ein paar Kopeken verkauften.
Und hinter dem Kiefernwald, auf der anderen Seite des reißenden, steinigen Flusses, sah man schon die ersten Ausläufer des Uralgebirges.
Im Gemeindehaus sprach Dolinin mit dem Dorfältesten, einem mürrischen Greis, der genau so aussah, wie man sich einen richtigen Waldschrat vorstellt, über und über bedeckt von grauen, wie von Grünspan überzogenen Haaren. Außer dem Alten waren bei dem Gespräch zwei nicht mehr junge Männer zugegen, die ihre Münder nicht aufbekamen und die ungeladenen Gäste nur misstrauisch anstarrten.
Hätten sie nicht den Gemeindeältesten dabeigehabt, der ein Gevatter des Dorfältesten war, wäre wahrscheinlich gar kein Gespräch zustande gekommen.
Die Hauptsache, deretwegen sie angereist waren, klärte sich sofort.
Der Dorfälteste warf einen Blick in die geöffnete Kiste, bekreuzigte sich und sagte, das sei ganz gewiss Petka Scheluchin, gebürtig aus Stroganowka. Vor drei Jahren sei er fortgegangen, seitdem habe ihn niemand aus dem Dorf mehr gesehen.
»Unter welchen Umständen hat er seinen Wohnort verlassen?« fragte Dolinin.
»He?« Der Dorfälteste glubschte ihn verständnislos an. Er beherrschte ausschließlich die regionale Mundart, was die Verständigung mit ihm einigermaßen erschwerte. »Wat is?«
»Ich meine, warum ist er fortgegangen?«
»Tjoch, wech is wech. Ihm sein Jebü hamwa olingens anne Gemiende gegebn«, antwortete der Alte und umfasste mit einer weiten Geste die Kate, nebenbei gesagt ein ziemlich erbärmliches Anwesen mit niedriger Decke und grau von Spinnweben.
»›Olingens‹, das heißt ›im letzten Jahr‹«, übersetzte Pelagia. »Sie haben in Scheluchins Haus ein Gemeindehaus eingerichtet.«
»Merci. Aber ich habe ihn nicht nach dem Haus gefragt, ich möchte wissen, was für ein Mensch dieser Scheluchin war. Warum hat er das Dorf verlassen?«
»Ein . . .!«, sagte der Alte und sprach das Kraftwort so klar und deutlich aus, dass die Nonne die Nase rümpfte. »Ein Muulwacker und Modderlock, drewischer. Am Löjjen immer wie’n Drufappel, hernacher hamse jüm beim
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