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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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zänkischer, dummer Vogel. Er tut doch nichts weiter als die Hühner besteigen und sich die Kehle heiser schreien.«
    »Oho, Moment! «, widersprach ihr der Bischof mit erhobenem Zeigefinger. »Ganz so ist es nicht! Der Mensch hat von alters her ein ganz besonderes Verhältnis zum Hahn, schon zu vorchristlichen Zeiten war das so, und zwar bemerkenswerterweise überall auf der Welt, wo man den Gallus Domesticus antrifft. In China verkörpert er zum Beispiel das Prinzip Yang, das heißt die Kühnheit, die Gewogenheit, die Würde und die Treue. Und der rotgefiederte Hahn ist auch das Symbol der Sonne. Bei den alten Kelten, um den Blick wieder auf die andere Seite des Planeten zu richten, galt der rote Hahn als die Verkörperung der Götter der Unterwelt. Und in der griechisch-römischen Kultur steht der Hahn für die Erneuerung. Überhaupt wird dieser Vogel in den meisten Mythologien mit dem Morgenrot, der Sonne, dem Licht und dem himmlischen Feuer assoziiert, also mit der Entstehung neuen Lebens. Der Hahn vertreibt die Nacht und die Finsternis, die Angst und Blindheit, die sie begleiten.«
    Solche Stehgreifvorträge, zuweilen aus den ungewöhnlichsten Anlässen, waren ein Steckenpferd Mitrofanis, und Pelagia lauschte ihnen jedes Mal mit großem Interesse. Aber niemals hatte sie ihm so begierig zugehört wie gerade jetzt.
    »Nehmen wir das Christentum«, fuhr der Bischof fort. »In unserer Religion hat dieses Geflügel, für das du dich so lebhaft interessierst, ebenfalls einen besonderen Status. Bei uns gilt der Hahn nämlich als Symbol des Lichts, er begrüßt den Aufgang der christlichen Sonne und vertreibt die Mächte der Finsternis. Und Ostern, wenn wir der Leiden Christi gedenken, ist der Hahn das Sinnbild der Auferstehung. Ist dir bekannt, dass das Kreuz, welches heute allgemein das Symbol des Christentums ist, erst sehr spät, genauer gesagt in der Mitte des fünften Jahrhunderts, dazu wurde? Bis zu dieser Zeit verwendeten die Christen andere Symbole, und sehr oft stand gerade der Hahn als Sinnbild für den Sohn Gottes, der gekommen ist, um die Menschheit zu erlösen. Und denk auch an die Prophezeiungen des Salomo: ›Und wird sich der Mensch beim Ruf des Hahnes erheben – und alle Gesänge verhallen.‹ Nicht wahr, damit ist ja gemeint, dass der Hahn den Menschen den Tag des Jüngsten Gerichtes verkünden wird.«
    Je länger Pelagia den gelehrten Worten Mitrofanis zuhörte, desto nachdenklicher wurde ihr Gesicht, und schließlich schien ihr Blick ganz und gar in sich gekehrt.
    Als der Bischof geendet hatte, stellte die Nonne keine weiteren Fragen mehr. Sie bedankte sich mit einer Verbeugung, entschuldigte sich, dass sie Seine Eminenz von seiner schriftstellerischen Arbeit abgelenkt hatte, und verabschiedete sich.
    Die Höhle des Zyklopen
    Die Schwester schickte sich an, die bischöfliche Residenz auf demselben Wege zu verlassen, auf dem sie gekommen war, das heißt, sie nahm nicht den längeren Weg über den Hof und durch das Tor, sondern die Abkürzung durch die Gartenpforte, zu der sie einen eigenen Schlüssel besaß.
    In den Fenstern des Mönchstraktes waren die Lichter bereits erloschen, und auch die Laterne vor dem Haupteingang war schon aus. Doch am Himmel leuchtete hell der Mond, und die Nacht war klar.
    Es roch nach frischem Laub, von der Apfelbaumallee her klang das Gemurmel des Brunnens herüber, und nach und nach fiel die Anspannung von der Nonne ab.
    Der bischöfliche Garten galt als eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt und wurde in mustergültiger Ordnung gehalten. Die schneeweißen, mit feinem Sand bestreuten Wege wurden mehrmals am Tage geharkt, sodass Pelagia das Gefühl hatte, nicht auf dem Erdboden zu gehen, sondern über die Milchstraße dahinzuwandeln. Um diese Schönheit nicht zu verletzen, lief sie nicht direkt auf dem Weg, sondern hielt sich ganz an seinem Rande.
    Plötzlich bemerkte sie mitten auf dem schneeweißen, unberührten Streifen Fußspuren. Jemand war hier vor kurzem entlanggegangen, und zwar mit Sicherheit nach dem letzten abendlichen Harken.
    Wer kann das wohl gewesen sein, überlegte Pelagia zerstreut, während sie mit ihren Gedanken immer noch bei den Höhlen und den roten Hähnen war. Es war nur sehr wenigen Personen gestattet, in dem Garten spazieren zu gehen, und schon gar nicht zu so später Stunde. Vater Usserdow vielleicht? Nein, schloss sie messerscharf, bei einem Geistlichen ist die Schrittlänge kürzer, weil ihn die Soutane behindert.
    Sie rückte ihre Brille

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