Pelagia und der schwarze Moench
die Luke zurück und erblickte über sich den Himmel, kurz vor Morgengrauen. Die Luft war muffig und feucht, doch sie roch nach Leben.
Polina Andrejewna klammerte sich mit den Fingern an den Rand der Öffnung, zog sich hoch und stützte sich zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Ellbogen ab – als Turnlehrerin fiel ihr das nicht sonderlich schwer.
Als sie an Deck saß, blickte sie hinunter in das Loch. Dort wogte das schwarze, tödliche Wasser, das jetzt immer schneller und schneller hereinströmte – vermutlich waren die Lecks durch den Wasserdruck größer geworden.
Was war das für ein kleiner Fleck an der Oberfläche?
Sie sah genauer hin – eine Maus. Die einzige, die überlebt hatte, alle anderen waren ertrunken. Und auch diese strampelte mit letzter Kraft.
Die wundersam gerettete Polina Andrejewna verzog angeekelt den Mund, beugte sich hinab, packte die graue Schwimmerin (es war die Maus mit dem Stummelschwanz) und schleuderte sie weit weg von sich aufs Deck.
Die Maus schüttelte sich wie ein Hund und flitzte, ohne sich nach ihrer Retterin auch nur umzusehen, über das Fallreep ans Ufer.
Und sie tat gut daran – das Deck befand sich beinahe schon auf gleicher Höhe wie die Wasseroberfläche.
Frau Lissizyna blickte sich um. Sie sah halb versunkene Barkassen, aus dem Wasser aufragende Masten und im seichten Wasser ganz verfaulte hölzerne Schiffsgerippe.
Ein Schiffsfriedhof für alte Kähne und Fischerboote – dahin hatte Kapitän Jonas, der vor Leidenschaft den Verstand verloren hatte, seine Beute geschleppt.
Wenn man vom Teufel spricht – da kam der Kapitän auch schon!
Aus dem fahlen Nebel tauchte eine massive, schwarze Silhouette am Ufer auf, die langsam auf das Fallreep zusteuerte.
Langstreckenlauf
Polina Andrejewna stachen die Hände des Mönchs ins Auge, die gemächlich und ihrer Sache gewiss die Ärmel seiner Kutte hochkrempelten. Die Bedeutung dieser Geste war so offensichtlich, dass die Wiederauferstandene den segensreichen Duft des Lebens sogleich vergaß und, dem Beispiel ihrer flinken Leidensgenossin folgend, in Windeseile zum Fallreep stürzte.
Sie rannte über die schwankenden Bretter an Land, tauchte unter der gespreizten Pranke des Kapitäns hindurch und stürmte über Steine und Geröll und dann über den kleinen Pfad in die Richtung, wo sich nach ihrer Berechnung die Stadt befinden musste.
Sie blickte sich um und sah, dass Jonas mit seinen Stiefeln polternd hinterhergelaufen kam. Aber wie hätte er es mit der leichtfüßigen Läuferin aufnehmen können? Zudem ist es etwas ganz anderes, in einer langen Kutte zu laufen als in leichten Satinhosen, die die Bewegungsfreiheit nicht einengen.
Kein Zweifel – wäre es ein Wettkampf bei den Olympischen Spielen gewesen, dieser neuen europäischen Volksbelustigung, dann hätte nicht der Verfolger, sondern sein Opfer die Medaille im Sprint davongetragen.
Frau Lissizyna lag erst zwanzig, dann fünfzig und dann hundert Schritte vorn. Das Trampeln der Stiefel war beinahe nicht mehr zu hören. Doch jedes Mal, wenn sie sich umblickte, sah sie den hartnäckigen Kapitän, der gar nicht daran dachte aufzugeben und noch immer hinter ihr herlief.
Der Pfad lag völlig verlassen, zu beiden Seiten erstreckten sich nackte Wiesen – kein einziges Haus, nur niedrige Wirtschaftsgebäude, dunkel und menschenleer. Sie konnte sich auf nichts verlassen als auf ihre eigenen Beine.
Die Füße stießen sich gleichmäßig von dem federnden Boden ab: eins, zwei, drei, vier – einatmen, eins, zwei, drei, vier – ausatmen, aber die gefesselten Hände störten sie, je länger sie lief, desto mehr. Gemäß der englischen Sportwissenschaft waren ein weit ausholender Schwung der Arme und die tatkräftige Mitwirkung von Ellbogen und Schultern Voraussetzung für das richtige Laufen, aber davon konnte mit zusammengebundenen Handgelenken und mit vor die Brust gepressten Händen keine Rede sein.
Dann, als der Weg allmählich leicht anstieg, ging ihr die Luft aus. Entgegen der richtigen Technik atmete Polina Andrejewna schon sowohl mit dem Mund als auch mit der Nase und auch nicht mehr zwischen dem vierten und dem fünften Laufschritt, sondern wie es gerade kam. Sie stolperte mehrmals und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Das Trampeln der Stiefel kam allmählich näher, und die Lissizyna erinnerte sich, dass die neuesten Richtlinien für die Olympischen Spiele neben dem Sprint, also dem Kurzstreckenlauf, auch noch den Langstreckenlauf vorsahen. In
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