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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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deutete sie auf Jonas), »ist dir gefolgt. Du hast keine einzige Kirche besucht, keine einzige Kapelle! Wozu auch, schließlich bist du ja nicht deshalb hier!«
    Also das war des Rätsels Lösung! Die Erkenntnis der Ermittlerin kam spät – zu spät. Alle ihre Vermutungen, die wahrscheinlichen wie die unwahrscheinlichen, waren falsch. Die Wahrheit war fantastisch, unvorstellbar! Wie hätte sie auch ahnen können, dass eine der Einwohnerinnen sich zur »Kaiserin von Kanaan« proklamiert hatte! Deshalb also hatte sich die glänzende Frau Borejko auf dieser abgelegenen Insel niedergelassen, deswegen wollte sie nicht weg von hier! Sie war unbestreitbar schön, elegant, auf ihre Art sogar majestätisch. Doch in Petersburg wäre sie eine von vielen, in der Gouvernementsstadt eine von mehreren gewesen, und selbst in der tiefsten Provinz mochte sich eine Rivalin finden. Hier hingegen, in dieser kleinen Männerwelt, gab es keine, die sich mit ihr messen konnte. Damen der Gesellschaft gab es überhaupt keine, die Frauen aus dem einfachen Volk zählten nicht. Und die Pilgerinnen, die hierher kamen, hatten anderes im Sinn: Sie trugen fromme Mienen zur Schau, gingen in schwarze Tücher gehüllt und hatten keine Augen für Männer – warum auch, gab es doch dort, woher sie kamen, um für ihre Sünden um Vergebung zu flehen, mehr als genug Kavaliere.
    Die Borejko hatte sich hier auf der Insel ihren eigenen Staat eingerichtet. Und sie hatte ihren persönlichen Dschinn, ihren treuen Sklaven – Kapitän Jonas. Das war er, der schwarze Mönch, in höchsteigener Person! Er stand da mit einem törichten, seligen Lächeln auf seinem wettergegerbten Gesicht. Jemand wie er würde ergeben jeder Laune seiner Gebieterin nachkommen, sogar ein Verbrechen begehen. Würde sie anordnen, die Untergebenen in Angst und Schrecken zu versetzen, ihrem Herzen eine mystische Furcht einzupflanzen – Jonas würde es tun. Würde sie befehlen, zu töten, jemanden um den Verstand zu bringen, zu entführen – er würde auch das ausführen, ohne zu zaudern.
    Polina Andrejewna war so erschüttert, dass sie gar nicht dazu kam, die möglichen Motive für dieses ungeheure Vorhaben zu durchdenken, doch eines wusste sie ganz sicher: Weiblicher Ehrgeiz ist unmäßiger und absoluter als der männliche; wenn er sich von irgendeiner Seite bedroht fühlt, ist er zu jeder Tücke und Grausamkeit bereit. Man musste die wutschnaubende »Kaiserin« über den Irrtum aufklären, dem sie hinsichtlich der Absichten der angeblichen Pilgerin erlegen war (Polina Andrejewna brauchte die Männer von Neu-Ararat, ja Männer überhaupt, ganz gewiss nicht), andernfalls würde Lidia Jewgenjewna in ihrer Erbitterung noch eine Freveltat begehen. Was würde ihr das noch ausmachen, nach alldem, was sie schon begangen hatte?
    Die an den Handgelenken zusammengebundenen Hände wollte nach dem Knebel greifen, aber da war nichts zu machen: Der geschickte Seemann hatte die Fesseln an Händen und Füßen miteinander verbunden, sodass es unmöglich war, den straffen Knoten am Hinterkopf zu erreichen.
    Die Gefangene begann zu brüllen und gab zu verstehen, dass sie etwas sagen wollte. Es klang jämmerlich, doch Lidia Jewgenjewna ließ sich nicht erweichen.
    »Suchst du Mitleid? Zu spät! Andere hätte ich dir verziehen, aber ihn – niemals!« Ihre Augen funkelten so hasserfüllt, dass Polina Andrejewna erkannte: Sie würde ihr ohnehin nicht zuhören, für sie war längst alles entschieden.
    Wen Lidia Jewgenjewna ihr nicht verzeihen wollte, erfuhr die Lissizyna freilich nicht, weil die Klägerin stolz die Arme in die Seiten stemmte, mit der Geste einer römischen Kaiserin, die einen Gladiator zum Tode verdammt, die Hand nach unten streckte und verkündete:
    »Dein Urteil ist gefällt und wird sofort vollstreckt. Jonas, hältst du deinen Schwur?«
    »Ja, Kaiserin«, erwiderte der Kapitän heiser. »Ich mache alles, was du willst.«
    »Dann fang an!«
    Jonas kramte in einer dunklen Ecke herum und zog ein Brecheisen hervor. Er spuckte in die Hände und packte das Brecheisen fester.
    Er würde ihr doch nicht den Schädel einschlagen? Polina Andrejewna kniff die Augen zusammen.
    Ein Knacken ertönte, dann das Krachen von splitternden Bohlen.
    Sie schlug die Augen auf und sah, dass der Hüne mit Schwung die Bordwand durchschlug, und zwar anscheinend unterhalb der Wasserlinie, denn durch das Loch strömte Wasser herein. Der Kapitän holte wieder aus und schlug von neuem zu. Dann noch einmal und noch

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