Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
Andrejewna wollte schon weitergehen, um nicht mit anzusehen, wie das weiße, flaumige Knäuel fiepend in die Tiefe segeln würde, und nicht mit anzuhören, wie herzzerreißend das kleine Mädchen dann weinen würde (man sollte sie wegbringen), doch in dem Moment gesellte sich eine neue Person dazu, die so interessant war, dass die angebliche Moskauerin es sich anders überlegte und nicht weiterging.
    Ein hoch gewachsener, hagerer Herr in einem stutzerhaften weißen Mantel und einer ebenfalls weißen, leinenen Schirmmütze stieß das Publikum ohne viel Federlesens beiseite. Der energische Herr fiel ohne jeden Zweifel unter die berüchtigte Kategorie »bildschöner Mann«, zu der ein Mann bekanntlich keineswegs wegen seiner klassisch-regelmäßigen Züge gezählt wird (obwohl dieser goldhaarige, blauäugige Herr slawischen Typs ganz und gar nicht hässlich war), sondern weil er einen allgemeinen Eindruck ruhiger Gelassenheit und bezaubernder Verwegenheit zu vermitteln weiß. Diese beiden Qualitäten, die unweigerlich auf nahezu alle Frauen wirken, zeigten sich so deutlich im Gesicht und in der ganzen Art dieses eleganten Herrn, dass die sich in der Menge befindlichen Damen und Fräulein, die Frauen und Mädchen ihm sofort besondere Aufmerksamkeit schenkten.
    Auch Frau Lissizyna bildete da keine Ausnahme und dachte bei sich: »So etwas, was es für Typen gibt in Ararat. Ist der hier etwa auch auf einer Wallfahrt?«
    Doch der Neuankömmling verhielt sich im Folgenden so, dass sich die besondere Aufmerksamkeit gegenüber seiner Person in eine gebannte Aufmerksamkeit verwandelte (was, nebenbei bemerkt, beim Erscheinen eines »bildschönen Mannes« keine Seltenheit ist).
    Der schöne Mann hatte mit einem Blick die Lage erfasst und richtig eingeschätzt und schleuderte ohne das geringste Zögern seine Mütze zu Boden, wohin auch der modische Mantel flog.
    Einem der Gaffer, dem Aussehen nach ein Handwerker, befahl der Herr:
    »He, du da, marsch, auf den Baum! Nur keine Bange, du musst nicht auf den Ast klettern. Wenn ich › Los!‹ schreie, schüttelst du ihn mit aller Kraft.«
    Es war unmöglich, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten. Der Handwerker ließ seine speckige Schirmmütze ebenfalls zu Boden fallen, spuckte in die Hände und kletterte auf den Baum.
    Das Publikum hielt den Atem an – und wie weiter?
    Und weiter ließ der schöne Mann seinen ebenfalls weißen Gehrock ins Gras fallen, er nahm Anlauf und sprang ins Bodenlose.
    Aah!
    Selbstverständlich schreibt man über das »Bodenlose« gewöhnlich aus Effekthascherei, denn jedermann weiß, dass außer dem einen und endgültigen Bodenlosen alle anderen Abgründe, sei es zu Land oder zu Wasser, unweigerlich irgendeinen Boden haben. Und so war auch dieser Abgrund nicht bodenlos, sondern vielleicht zehn Klafter tief. Doch das allein hätte vollkommen ausgereicht, um sich durch den Aufprall auf dem Wasser zu verletzen und zu ertrinken, ganz zu schweigen davon, dass vom See eine bleierne Kälte heraufwehte.
    Wie man es auch betrachtete, die Tat war der reine Wahnsinn. Sie war nicht heldenhaft, sondern wirklich wahnsinnig. Wenn es wenigstens etwas gewesen wäre, um dessentwillen sich Heldentum gelohnt hätte.
    Mit dem oben erwähnten »Aah!« drängten sich alle über dem steilen Abhang zusammen, um zu erspähen, ob nicht der übermütige blonde Kopf aus den Wellen auftauchte.
    Da war er! Wie ein Tennisball tanzte er zwischen den erstaunten Wellenkämmen.
    Dann tauchte ein Arm auf und winkte. Eine klingende, vom hilfsbereiten Wind getragene Stimme schrie herauf:
    »Los!«
    Der Handwerker schüttelte den Ast aus Leibeskräften, und das Kätzchen stürzte mit einem erbärmlichen Fiepen in die Tiefe. Es schlug etwa einen Klafter neben dem verrückten Herrn auf, der es in Sekundenschnelle packte und über die Wellen hochhielt.
    Die Zuschauer jubelten und schrien vor Begeisterung und waren völlig außer sich.
    Mit der freien Hand rudernd, schwamm der Held (der doch ein Held und kein Verrückter war, wie die Reaktion des Publikums bewies) zum Fuß des Abhangs, kletterte mit Mühe auf einen nassen Findling und balancierte unmittelbar am Rand der Brandung entlang zu einem in den Fels gehauenen Pfad. Von oben kam man ihm bereits entgegengelaufen, um ihn unterzuhaken, ihn trockenzureiben und zu umarmen.
    Nach einigen Minuten war der schöne Mann, empfangen von allgemeinem Jubelgeschrei, oben angelangt. Er ließ sich jetzt von niemandem mehr unterhaken oder abtrocknen,

Weitere Kostenlose Bücher