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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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seinen weißen Mauern und zahlreichen Kuppeln war das berühmte Kloster von nahezu allen Punkten der Stadt aus zu sehen, denn es befand sich an jenem Ende der Stadt, das auf einer leichten Anhöhe über dem See lag. Der Weg von den letzten Häusern der Stadt zu den ersten Gebäuden außerhalb der Klostermauern, die meist Wirtschaftszwecken dienten, verlief durch einen Park am Steilufer, zu dessen Fuß sich friedlich die rastlosen blauen Wellen kräuselten.
    Während sie am See entlangwanderte, fasste Polina Andrejewna ihren wollenen Umhang fester, denn der Wind war kühl, aber dennoch ging sie nicht tiefer in den Park hinein, weil sich von hier oben ein fast schmerzhaft schöner Blick auf den See bot und der böige Westwind zudem weniger Kühlung als vielmehr Erfrischung brachte.
    Kurz vor der Klostergrenze war auf einer offenen Wiese, die anscheinend ein beliebtes Ausflugsziel der örtlichen Bevölkerung darstellte, etwas Ungewöhnliches im Gange, und die neugierige Lissizyna wandte sich unverzüglich dorthin.
    Zunächst sah sie eine Schar von Menschen, die sich aus irgendeinem Grunde direkt am Ufer bei einer alten überhängenden Erle versammelt hatten, dann vernahm sie das Weinen eines Kindes und andere feine, durchdringende Laute, von denen sie nicht sagen konnte, woher sie kamen, die aber gleichfalls sehr jämmerlich klangen. Polina Andrejewna, die aus ihrer Erfahrung als Lehrerin alle Schattierungen kindlichen Weinens kannte, bemerkte mit Besorgnis, dass dieses Weinen überaus bitterlich und aufrichtig klang.
    Eine halbe Minute reichte der jungen Dame, sich ein Bild von der Lage zu machen.
    Im Grunde handelte es sich um eine ganz gewöhnliche, teils sogar komische Geschichte. Ein kleines Mädchen hatte mit einem Kätzchen gespielt und ihm erlaubt, auf den Baum zu klettern. Das flaumige Katzenkind hatte seine Krallen in die schartige Baumrinde geschlagen und sich dabei so weit und hoch hinausgewagt, dass es jetzt nicht mehr zurückkonnte. Die Situation war gefährlich, denn die Erle stand überhängend am steilen Abhang, und das Kätzchen saß auf dem längsten und dünnsten Ast fest, unter dem in der Tiefe die schaumbedeckten Wellen plätscherten.
    Man konnte sofort sehen, dass dem armen Ding nicht zu helfen war. Schade – es war ein ganz reizendes, hübsches Kätzchen: weißes Fell wie Schwanengefieder, runde, blaue Äuglein und um den Hals ein liebevoll gebundenes Atlasbändchen.
    Noch mehr Mitleid hatte sie mit der Besitzerin, einem kleinen Mädchen von vielleicht sechs oder sieben Jahren. Auch sie war allerliebst mit ihrem adretten Sarafan, dem geblümten Tüchlein, unter dem helle Locken hervorquollen, und ihren Bastschühchen, die aussahen wie Spielzeugschuhe.
    »Kusja! Kusjenka!«, schluchzte die Kleine. »Komm her, du fällst runter!«
    Von »herkommen« konnte keine Rede sein. Das Kätzchen klammerte sich mit letzter Kraft an das Ende des Asts. Der Wind schaukelte das weiße Körperchen, sodass es bald nach rechts, bald nach links schwankte und gewiss bald ganz heruntergeschüttelt werden würde.
    Polina Andrejewna beobachtete das traurige Bild und griff sich ans Herz. Ein noch nicht allzu lange zurückliegendes Ereignis fiel ihr ein, als sie in der gleichen Lage gewesen war wie dieses Kätzchen und allein durch Gottes Vorsehung gerettet worden war. Bei der Erinnerung an diese entsetzliche Nacht bekreuzigte sie sich und sprach flüsternd ein Gebet – aber nicht aus Dankbarkeit über ihre wundersame Rettung, sondern für das arme verdammte Kätzchen: »O Herr, lass das Tierchen leben! Was kostet Dich eine solche Kleinigkeit?«
    Sie wusste selbstverständlich genau, dass nur ein Wunder das Kätzchen retten konnte und es für die Vorsehung keinen Anlass gab, mit Wundern um sich zu werfen. Es wäre geradezu lächerlich gewesen, nicht erhaben.
    Die Leute in der Menge schwiegen natürlich nicht – einer tröstete das Mädchen, andere diskutierten, wie man das dumme Kätzchen da herunterholen könnte.
    Jemand sagte: »Man müsste hinaufklettern, das Bein auf einem Ast abstützen und das Kätzchen mit einem Fangnetz holen«, obwohl hier im Park ganz offensichtlich kein Fangnetz zu beschaffen war. Ein anderer überlegte laut vor sich hin: »Man könnte auf den Ast klettern und versuchen, sich vorzustrecken, aber dann bricht der Ast und man fällt hinunter. Es mag ja noch angehen, wegen eines Geschäfts sein Leben zu riskieren, aber wegen einer Katze . . .« Und er hatte Recht, vollkommen Recht.
    Polina

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