Pellkartoffeln und Popcorn
heranwuchs. Ich hatte schon von jeher gern Fisch gegessen, allerdings kannte ich ihn bisher nur in Form von mariniertem Hering oder Kabeljau und Schellfisch, aus dem Omi immer sorgfältig alle Gräten herausgesucht hatte, bevor sie mir meine Portion auf den Teller legte. Hier gab es aber meistens Hecht, und der hat nicht nur die Mittelgräte und ein paar Stacheln am Rand, nein, Hecht besteht nur aus Gräten. Jedenfalls kam mir das so vor, denn während alle anderen Gäste schon ihre Birnen schälten oder den Rhabarber löffelten, kaute ich immer noch auf dem Hecht herum und dekorierte den Tellerrand mit Gräten. Einmal blieb mir auch eine im Hals stecken; ich schluckte trockenes Brot, man brachte mir einen kalten Halswickel, beides half nicht!
Und so wurde ich erst erlöst, als Herr Dr. Nürnberg von seiner Wanderung zurückkam und fachmännisch Hilfe leistete. Schließlich war er ja auf Hals, Nasen, Ohren spezialisiert. Wenn es wieder mal Hecht gab, hatte ich keinen Hunger und schlich mich während der Essenszeit in den Garten. Die Äpfel waren zwar noch nicht ganz reif, aber sie hatten wenigstens keine Gräten.
Mit dem Mädchen aus Erfurt freundete ich mich sehr schnell an, auch wenn es anfangs Verständigungsschwierigkeiten gab. Im Gegensatz zu ihrem Vater sprach sie unverfälschtes Sächsisch. Aber mein dialektgeschultes Ohr, das immerhin schon Ostpreußisch und tschechisch eingefärbtes Deutsch in die mir geläufige Sprache transportiert hatte, gewöhnte sich sehr schnell an die neue Variante. Etwas schwieriger wurde es schon, wenn wir Schulprobleme oder Bereiche des täglichen Lebens debattierten. Renate lernte Russisch. Ich lernte Englisch. Renate hatte noch nie etwas vom Repräsentantenhaus gehört. Ich wußte nicht, was eine Kolchose ist. Renate kannte kein Popcorn. Ich kannte keinen Borschtsch. Völlige Übereinstimmung erzielten wir lediglich in der Auffassung, daß Mathematik eine blödsinnige Erfindung und ganz und gar überflüssig sei. Renate wollte Köchin werden, und mir schwebte damals für meine Zukunft so etwas Ähnliches wie Kindergärtnerin vor.
Tagsüber hockten wir Gören ständig zusammen, bauten Sandburgen, sammelten Muscheln und sezierten Quallen, von denen merkwürdigerweise nach unserer pathologischen Arbeit nie etwas übrigblieb. Bei Regenwetter saßen wir auf der verglasten Terrasse und spielten ›Sechsundsechzig‹ oder ›Name, Stadt, Land, Fluß …‹ Die Jüngeren verloren immer, weil sie noch nicht so schnell schreiben konnten. Sabine war sogar noch Analphabetin.
Überhaupt die Kleinen! Sie hingen uns dauernd am Schürzenzipfel beziehungsweise am Bademantelgürtel, wollten den Gummifrosch aufgeblasen oder die Schuhe zugebunden haben, brauchten Taschentücher, Sonnencreme und Klopapier und meuterten, wenn wir Großen bis neun
Uhr aufbleiben durften. Nach dem Abendessen fühlten wir uns nämlich erwachsen, weil wir noch ein bißchen ›bummeln‹ durften. Bummeln bedeutete die Strandpromenade einmal rauf und wieder runter, dann marschierten Renate und ich ins Bett und unsere Erziehungsberechtigten ins Cafe ›Treffpunkt‹, wo sich das recht bescheidene Nachtleben von Binz abspielte. Die Kurkapelle war inzwischen auf sechs Mann zusammengeschrumpft, weil ein größeres Orchester auf dem Podium keinen Platz gehabt hätte; ein Schmalztenor im Frack sang abwechselnd ›La Paloma‹ und die ›Caprifischer‹, und um 23 Uhr war Polizeistunde. Eingesessene und Feriengäste, die schon früher in Binz gewesen waren, bedauerten immer wieder, daß man das Kurhaus nicht mehr benutzen durfte. Dort herrschte früher doch noch Atmosphäre.
Das Kurhaus hatten aber die Russen beschlagnahmt, – allerdings als einziges Gebäude im ganzen Ort. Dazu gehörten auch 300 Meter Strand, von der Düne bis zum Meer hinunter sorgfältig durch Holzzäune abgegrenzt; und nur dort hielten sich die sowjetischen Badegäste auf. Es schien sich im übrigen um eine militärische Oberschicht zu handeln, die abends in ordenbehangenen Uniformen im Kurhaus saß, eskortiert von fülligen Damen in hautengen großgeblümten Sommerkleidern. Von allen hofiert wurde eine ganz besonders dicke Dame, die nur Weiß trug und an milden Sommerabenden auf dem Mittelbalkon des Kurhauses thronte, wo sie ausdauernd Balalaika spielte. Manchmal sang sie noch dazu und nahm die späteren Ovationen mit einem huldvollen Winken entgegen. »Das ist die Generalin«, teilte uns Frau Teetjens mit. »Sie gehört zum Inventar des Hauses,
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