Pellkartoffeln und Popcorn
kahle Wände vorfanden. Sie mußten wohl bald eine etwas gemütlichere Behausung entdeckt haben, denn nach drei Wochen zogen sie wieder aus. Dann kamen andere Flüchtlinge, die auch nicht viel länger blieben; eine Zeitlang hatten Bekannte von Bennichs dort gewohnt und zwischen geliehenen Möbeln und in der Nachbarschaft zusammengesammeltem Geschirr gehaust. Schließlich hatten sie in Charlottenburg eine neue Bleibe gefunden; die Wohnung wurde notdürftig renoviert, und nun sollten die neuen Mieter kommen. Angeblich handelte es sich um eine Familie mit drei Kindern, von denen bisher erst eins aufgetaucht war, ein dreizehnjähriger Knabe mit Lockenkopf und beginnendem Oberlippenbärtchen. Diese Information stammte von Frau Hülsner, die sich aus naheliegenden Gründen ganz besonders für ihr künftiges Vis-a-vis interessierte.
»Der Mann ist Kunstmaler, die Frau angeblich Österreicherin, und das jüngste Kind ist noch ein Baby und soll von einem Ami stammen.«
»Nun hören Sie aber auf! Die Leute sind noch gar nicht richtig eingezogen, und schon wird getratscht. Von wem haben Sie denn den ganzen Unsinn?«
Meine Mutter hatte für Hausklatsch nichts übrig und hielt sich bisher auch aus den Vermutungen heraus, die neuerdings um Herrn Leutze kreisten. Dessen Frau war trotz gegenteiliger Ankündigungen noch immer nicht aus ihrem Thüringer Asyl zurückgekommen; Sohn Harald blieb auch verschwunden, und nun rankten sich die wildesten Gerüchte um Herrn Leutzes Strohwitwerleben. Neue Nahrung bekamen sie immer dann, wenn Damen um die Vierzig an seiner Tür klingelten. Herr Leutze behauptete zwar, er suche eine Haushälterin. Aber trotz des Überangebots an weiblichen Arbeitskräften war er bisher noch nicht fündig geworden.
Frau Hülsner bekannte also kleinlaut, daß ihre Informationen von einer Dame stammen würden, deren Freundin im selben Haus wie die Familie Gassen wohnt. »Beziehungsweise gewohnt hat, denn die ziehen ja hier ein. Ein Teil des Mobiliars ist schon da.«
Nun war ich schon zu alt, um mich wie in früheren Zeiten neben den Möbelwagen zu stellen und das Ausladen zu überwachen. Andererseits noch nicht alt genug, um die begreifliche Neugierde zu unterdrücken. Also beobachtete ich den Einzug unserer neuen Nachbarn hinter der schützenden Gardine.
Herr Gassen sah überhaupt nicht wie ein Künstler aus, eher wie ein Buchhalter mit gelegentlicher Prokura. Er trug kurzgeschnittene Haare statt der erwarteten Lockenfülle, eine dunkle Hornbrille und ausgeleierte Hosen mit Hosenträgern. Seelenruhig reparierte er mitten auf der Straße das Dreirad seiner Tochter, während die Möbelmänner Tische und Schränke vor der Haustür aufbauten und nach Bier schrien.
»Hol mal welches!« befahl der Vater dem Sohne.
»Wo denn?«
»Weiß ich nicht.«
Der Knabe schoß los und kam auch prompt mit dem Bier zurück, das nach Ansicht von Kennern alles mögliche, mit Sicherheit aber keinen Alkohol enthielt.
Als sich nach etwa zwei Stunden das schon lange grollende Gewitter endlich entlud und der Regen eimerweise herunterrauschte, standen die Möbel noch immer vor der Tür, Herr Gassen reinigte Schraubenmuttern, die Möbelpacker suchten im Hausflur Schutz; und der dunkelgelockte Knabe rannte hinter einem Lampenschirm her, der im Rinnstein davon- schwamm. Ich kam zu der Erkenntnis, daß es sich bei den neuen Nachbarn um eine höchst bemerkenswerte Familie zu handeln schien. Später lernte ich sie richtig kennen. Mami hatte seit jeher eine Vorliebe für Menschen, die nicht so ganz in den üblichen Rahmen passen; und so marschierte sie ein paar Tage nach dem Einzug mit einem Blumenstrauß ins Nebenhaus, um sich mit den neuen Mietern bekanntzumachen. Erst lange nach der für einen Anstandsbesuch schicklichen Zeit kam sie zurück, wischte sich die Lachtränen aus den Augen und prophezeite: »Mit denen werden wir noch einiges erleben!« Ich platzte beinahe vor Neugier. Mami ging ins Bad, drückte mir ein Tablettenröhrchen in die Hand und sagte: »Ich habe Frau Gassen ein paar Kopfschmerztabletten versprochen, die kannst du ja rüberbringen.«
Ein etwa sechsjähriges Mädchen öffnete die Tür, wurde aber sofort von seinem Bruder zur Seite geschoben. »Guten Tag, ich heiße Peter, bitte komm herein.«
So viel Höflichkeit war ich von Dreizehnjährigen nicht gewöhnt. Axel Biegert grunzte höchstens, wenn er mich ins Haus ließ, Lothchen sagte allenfalls ›Tach!‹, und Klaus war auch nicht viel gesprächiger. Der Knabe
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