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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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verbunden waren, brauchten nicht einmal Notausgänge geschaffen zu werden. Außerdem gab es sowieso noch einen Ausgang nach hinten, der zum Gärtchen und damit zum Müllhaus führte.
    Neben die Haustür wurde lediglich ein weißer Pfeil auf die Wand gemalt, der in schwarzen Buchstaben die geheimnisvolle Inschrift ›LK 3,67‹ trug.
    »Det vaschandelt ja den Jesamteindruck von det jepflegte Haus«, sagte Herr Lehmann und machte sich daran, die Farbe wieder abzuschrubben. Das wurde ihm sofort verboten, denn dieser Pfeil sollte späteren Suchtrupps die Ausgrabungsstätte anzeigen. Blieb also nur zu hoffen, daß wenigstens das entscheidende Stück Hausmauer stehenbleiben würde.
    Tatsächlich haben diese überall angebrachten Pfeile unzähligen Verschütteten das Leben gerettet; aber wir nahmen sie damals nicht so recht ernst. Wer dachte schon an Luftangriffe? Die deutschen Soldaten siegten sich unaufhaltsam voran; und so ziemlich jeder glaubte zumindest offiziell, daß der ganze Spuk bald vorübersein würde. Und wer es nicht glaubte, der hielt vorsichtshalber den Mund. Bekanntlich sind wir ja auch vorübergehend ein sehr schweigsames Volk geworden.
    Im allgemeinen sagt man den Berlinern nach, daß sie sich von allen Deutschen am schnellsten mit widrigen Verhältnissen abfinden können und immer versuchen, das Beste daraus zu machen. Nun ließ sich an den damaligen Verhältnissen wirklich nichts ändern; und so bemühte man sich wenigstens, das tägliche Leben so normal wie möglich fortzusetzen.
    Zum ›normalen Leben‹ gehörten für mich die Ballettstunden. Als ich irgendwann wieder einmal gegen den Teewagen gerast und in voller Länge auf dem Fußboden gelandet war, hatte meine Mutter kopfschüttelnd festgestellt:
    »Ich kann mir nicht helfen, aber du bewegst dich wie ein Nilpferd. Überhaupt kein bißchen Grazie!«
    Zwei Wochen später war ich Mitglied einer privaten Balletschule, die am Nollendorfplatz ihre Räumlichkeiten hatte. Zähneknirschend opferte Omi drei kostbare Spinnstoffmarken für den Ankauf eines Gymnastikanzugs, und bewaffnet mit dem guten Stück fuhr ich dienstags und freitags mit der U-Bahn in die Stadt, um zwei Stunden lang an der Ballettstange zu trainieren, um graziös zu werden. Da es meiner Mutter offenbar nicht schnell genug ging, wurden abends die Wohnzimmermöbel an die Wand gerückt, und ich mußte unter Omis Anleitung Spagat, Brücke rückwärts und Radschlagen trainieren. Den Abschluß dieser Übungen bildete der regelmäßige Versuch, einen vorschriftsmäßigen Handstand hinzulegen. Zu diesem Zweck hatte ich mich vor der Zimmertür aufzubauen, die wenigstens einen gewissen Halt bot. Wenn ich zum viertenmal gegen die Türfüllung gebolzt war, klopfte Herr Jäger nachdrücklich auf den Fußboden, worauf die Trainingsstunde abgebrochen wurde.
    Genützt haben diese Torturen gar nichts. Heute bewege ich mich nicht mehr wie ein Nilpferd, sondern wie ein Elefant. Aber nur wie ein ganz kleiner!
    Fortgesetzt wurden auch die Klavierstunden. Schließlich besaßen wir eines, und das mußte malträtiert werden. Außerdem hatte meine Großmutter in ihrer Jugendzeit auch schon auf dem Pianoforte Etüden von Czerny geübt. Meine Mutter spielte ausgezeichnet, allerdings lieber Peter Kreuder und Franz Grothe statt Bach und Beethoven, und nun war ich an der Reihe, die musikalische Tradition des Hauses fortzusetzen.
    Klavierstunden erteilte Fräulein Mücke. Sie muß damals etwa sechzig gewesen sein und hatte bereits Generationen von Schülern in die Anfangsgründe dieser hehren Kunst eingeweiht. An ihr lag es ganz bestimmt nicht, wenn meine Fortschritte kaum zu bemerken waren. Zwar konnte ich schon nach einem halben Jahr recht geläufig die Tonleiter rauf- und runterspielen, gelegentlich auch eine einfache Kindermelodie fehlerfrei intonieren, aber schon das Lied der Meermädchen aus ›Oberon‹ bereitete mir unüberwindliche Schwierigkeiten. Darin kam nämlich ein Cis vor, und das vergaß ich immer. Fräulein Mücke zuckte schon vor dem Anschlag des betreffenden Tons zusammen, und wenn ich die falsche Taste dann auch prompt angeschlagen hatte, jammerte sie gequält: »Cis statt C!«
    Hatte ich ihre Nerven genug strapaziert und war die Stunde noch nicht zu Ende, dann ließ sie mich Noten lesen. Das war geräuschloser und für beide Teile befriedigender.
    Meine Klavierstunden nahmen erst ein Ende, als ich nach Ostpreußen verschickt wurde, wo es kein Klavier gab. Ich glaube aber kaum, daß meine so jäh

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