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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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Kniehöhe einheitlich bekleidet, denn die vorgeschriebenen weißen Strümpfe trugen auch nicht alle.
    Als erstes lernten wir die Hierarchie des BDM kennen, deren unterste Stufe die Mädelgruppenführerin war. Dann kamen die höheren Ränge, und irgendwann ziemlich weit oben kam die Ringführerin. Bei uns hieß sie Heiterlein, und wir bekamen sie nur einmal zu Gesicht. Außerdem lernten wir Marschieren, und rechts um und links um, und vorschriftsmäßiges Grüßen und die korrekte Wiedergabe von Meldungen. Und wir lernten so schöne Lieder wie ›Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren‹ und ›Unsere Fahne flattert uns voran‹. Dabei hatten wir gar keine Fanfaren, nicht mal eine Trommel, und eine Fahne – Wimpel genannt – auch noch nicht. Die sollten wir bekommen, wenn wir uns sechs Wochen lang bewährt hatten. In welcher Form das zu geschehen hätte, wurde uns aber nicht gesagt. Dann durften wir auch erst das schwarze Fahrtentuch tragen, das uns in einer feierlichen Weihestunde verliehen werden sollte.
    Ein vorschriftsmäßiges Vierecktuch hatte Frau Nawrotzki besorgen können, den dazugehörigen Lederknoten nicht. Leder war Mangelware, die Kunststoffindustrie steckte noch in den Kinderschuhen und beschränkte sich, was den zivilen Bedarf anlangte, auf die Herstellung von Igelit-Sandalen, die immer an nackten Füßen festklebten. Ich sah mich schon als einzige ohne korrekte Uniform dastehen. Die anderen hatten alle diesen vertrackten Knoten irgendwo aufgetrieben, meist bei älteren Geschwistern. Schließlich klagte ich im nächsten Brief Omi mein Leid, und postwendend kam ein Lederknoten, Spende von Frau Bennich, deren ältester Sohn inzwischen die HJ-Uniform mit einer feldgrauen hatte vertauschen müssen. Der feierliche Tag kam heran. Die Schule war mit Fahnen und Fähnchen dekoriert, der Bürgermeister trug was Braunes, Fräulein Scholz trug
    BDM-Kluft mit Kletterweste, alles nagelneu (man mußte eben Beziehungen haben), die Dorfhonoratioren waren herbeizitiert worden und hatten der sehr massiven Aufforderung erschreckt Folge geleistet. Und schließlich erschien auch Bannführer Kurbjuweit, eskortiert von zwei niederen Chargen. Zum Schluß erschien Ringführerin Heiterlein, leicht verschnupft und mit rutschenden Kniestrümpfen, was die Würde ihres Auftritts etwas beeinträchtigte.
    Erst wurde gesungen, dann wurden Reden gehalten, dann wurde wieder gesungen, und dann mußten wir einzeln vortreten, so eine Art Fahneneid schwören, bekamen das Fahrtentuch umgelegt, den Knoten darübergezogen, die rautenförmige Anstecknadel ausgehändigt, grüßten zackig ›Heil Hitler‹ und trabten wieder an unseren Platz zurück. Alles klappte reibungslos, aber schließlich hatten wir das ja auch eine Woche lang geübt. Zum Schluß überreichte Herr Kurbjuweit den Wimpel. Der hing an einer zwei Meter langen Stange und wurde Uschi übergeben, weil sie von uns allen die größte war. Sie wurde zur Wimpelträgerin ernannt. Die Handhabung des Fahnenschaftes hatte sie schon vorher mittels einer Harke trainiert, und so gelang es ihr auch, ohne Zwischenfälle und in vorschriftsmäßiger Haltung das Schulgebäude zu verlassen. Draußen formierten wir uns zum Abmarsch: Vorneweg die Uniformierten, in zwei Meter Abstand erst die Jungs, dann Uschi, dann die Mädchen, jeweils in Zweierreihen, weil wir so wenige waren, zum Schluß die Zivilisten. Einmal die Dorfstraße rauf, Kehrtwendung, Straße wieder zurück, anschließend weggetreten. Die Zeremonie war beendet und ich nunmehr vollwertiges Mitglied des Bundes Deutscher Mädchen.
    Die anfängliche Begeisterung für die neue Art von Freizeitgestaltung legte sich sehr schnell wieder, und zwar auf allen Seiten. Bannführer Kurbjuweit kam an die Front. Sein Nachfolger hatte weder an Fräulein Scholz Interesse noch an den ohnehin nicht sehr engagierten Hartecker Jünglingen. Der für unser Dorf zuständige Fähnleinführer spazierte abends lieber mit seiner Freundin in die Rominter Heide und vertagte die Kameradschaftsabende vorsichtshalber erst einmal bis zum Winter.
    Fräulein Scholz, der wir den plötzlich ausgebrochenen Nazismus letzten Endes zu verdanken hatten, legte ihre Uniform wieder ab und ergab sich dem Trunke. Kurz darauf wurde sie nach Berlin zurückberufen und ist nie wieder aufgetaucht. Unsere Mädelgruppenführerin wohnte in Goldap, und da sie bisher recht gut ohne den Hartecker BDM-Zuwachs ausgekommen war, sah sie wohl keinen Anlaß, unsere abflauende

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