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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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Hitlerbild und eines von Hindenburg, weil der seit Tannenberg als heimatlicher Held galt, und sonst gab es als Wandschmuck nur noch einen alten Stich von Königsberg, wie es dort vor hundert Jahren ausgesehen hatte.
8
    Wir Kinder hatten also vom derzeitigen Stand des Krieges herzlich wenig Ahnung, und die Erwachsenen waren vernünftig genug, uns über den Ernst der Lage im unklaren zu lassen. Außerdem gab es im Augenblick etwas viel Wichtigeres, nämlich den bevorstehenden Eintritt in den BDM.
    Eine straffgeführte Organisation, wie wir sie von Berlin her kannten, gab es in Harteck offenbar nicht. Manchmal schlurfte zwar ein Grüppchen Uniformierter durch das Dorf, aber die waren schon 14 oder 15 Jahre alt, und marschieren konnten sie auch nicht. Das fand wohl auch jener braungewandete Herr, den wir jetzt des öfteren in Begleitung von Fräulein Schelz sahen. Daran war an sich nichts Besonderes, schließlich war die Lehrerin schon Anfang Dreißig und noch immer unverehelicht. Aber wenn wir sie zusammen mit diesem Herrn trafen, durften wir nicht mehr ›guten Tag‹ sagen, sondern mußten ›Heil Hitler‹ brüllen und den rechten Arm zum deutschen Gruß erheben. Ich fand das ziemlich albern, denn so grüßte hier kein Mensch. Eines Tages tauchte dieser Herr in unserer Klasse auf. Ich stand gerade neben der Tafel und leierte die vorletzte Strophe von ›Nils Randers‹ herunter, als die Tür aufflog und die schon bekannte Erscheinung in voller Montur hereinmarschierte. »Heil Hitler!« – »Heil Hitler!« echote die Klasse bereitwillig, und »Heil Hitler!« grüßte betont forsch Fräulein Scholz, die seit ein paar Tagen das erkrankte Fräulein Bachmann vertrat.
    »Wer von euch ist zehn Jahre alt oder älter?« wollte der Uniformierte wissen.
    Alle Arme flogen in die Höhe. Bloß meiner blieb unten, ich war immer noch neun.
    »Das gnädige Fräulein fühlt sich wohl nicht angesprochen?«
    »Doch, aber ich werde erst im Mai zehn.«
    »So? Na, auf die vier Wochen kommt es auch nicht an. Ihr seid jedenfalls alt genug, um in die HJ beziehungsweise in den BDM aufgenommen zu werden. Wie ihr wißt, handelt es sich natürlich um einen freiwilligen Beitritt; aber es ist für jedes deutsche Kind eine Selbstverständlichkeit, sich dem Führer zur Verfügung zu stellen. Ich erwarte also, daß ihr euch morgen nachmittag geschlossen hier einfindet, damit die Aufnahmeformalitäten erledigt werden können. Heil Hitler!«
    »Das war Bannführer Kurbjuweit«, erklärte Fräulein Scholz ehrfürchtig, nachdem sie unseren Besucher hinausgeleitet hatte. »Der wird jetzt andere Saiten hier aufziehen, und ich rate euch, morgen alle herzukommen.«
    »Kriegen wir dann auch eine Uniform?« wollte Franz wissen.
    »Die müßt ihr euch selber besorgen.«
    Das war jedoch leichter gesagt als getan. Eine vorschriftsmäßige BDM-Kluft bestand aus einem dunkelblauen Rock, einer weißen, kurzärmeligen Bluse, einer sogenannten Kletterweste, worunter man das Mittelding zwischen Anorak und Windjacke in einem besonders widerlichen Braun zu verstehen hat, sowie Fahrtentuch und Knoten.
    »Wenn die euch schon in diesen Verein holen, sollten sie wenigstens für das Zubehör sorgen«, schimpfte Frau Nawrotzki, als sie meine Kleiderkarte prüfte und nur noch vier Spinnstoffpunkte für das laufende Quartal fand. »Du brauchst ein neues Kleid viel nötiger als diese häßliche Uniform.« Trotzdem fuhr sie mit mir nach Goldap, und weil der Inhaber des einen Textilgeschäftes der Neffe des Schwagers ihrer Schwester war (oder so ähnlich), bekam ich trotz fehlender Kleiderpunkte das Gewünschte.
    Der Rock bestand aus einem lodenähnlichen Material und kratzte ganz entsetzlich. Im Rockbund befanden sich Knopflöcher, die dazugehörigen Knöpfe saßen am unteren Blusenrand. Zehnjährige haben im allgemeinen noch keine Taille, und damit der Rock nicht dauernd rutschte, wurde er an der Bluse festgeknöpft. Das hielt aber nie sehr lange; erst rissen die Knöpfe ab und beim nächstenmal rissen sie aus. Frau Nawrotzki unterlegte sie mit Stoff, bevor sie die weißen Perlmuttknöpfe mit Zwirn festnähte, aber irgendwo fehlte doch immer einer. Normalerweise konnte man derartige Mängel mit dem senffarbenen Affenjäckchen verdecken; aber es gab keine Kletterwesten mehr zu kaufen. Offenbar wurden sie gar nicht mehr hergestellt. Soldatenuniformen waren wichtiger. So traten wir an kühlen Tagen mit Wolljacken an und waren zum Leidwesen unserer Mädelgruppenführerin kaum bis

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