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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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wegen ›Fraternisierung mit dem Feind‹, ›Wehrkraftzersetzung‹ und ähnlicher schwerwiegender Delikte.
    Auch Mami bezog Quartier bei Nawrotzkis, die sie sofort in ihr Herz schlossen, und das keineswegs nur wegen des Kaffees und der Zigarren.
    »Sie erinnern mich so sehr an meine Tochter, aber die lebt ja schon lange in Dresden«, sagte Frau Nawrotzki und streichelte verstohlen Mamis Hand. »Ich habe sie schon seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Wir beiden Alten sind nicht mehr jung genug zum Reisen, und die Tochter kann ja auch nich wech von die Kinder. Denn is da auch noch die Schwiejermutter, die sie versorjen muß.«
    Wenn Mami nicht gerade in Nawrotzkis gemütlichem Wohnzimmer saß, wo ein bullernder Kachelofen angenehme Wärme spendete, dann fror sie. »Zumindest in einem Punkt hat Omi recht gehabt. In Sibirien kann es auch nicht viel kälter sein als hier!« Dabei hatten wir bloß knapp 15 Grad unter Null. Um Weihnachten herum war es doppelt so kalt gewesen.
    Sehenswürdigkeiten, die ich meiner Mutter hätte zeigen können, gab es in Harteck nicht. Die Gänse waren alle im Stall, die Misthaufen unter Schneebergen vergraben, und die Dorfstraße bot wahrhaftig nicht viel Abwechslung. Vermutlich war Mami gar nicht böse, als ihre Urlaubstage zu Ende gingen. Vorher sorgte sie allerdings noch für eine einschneidende Veränderung.
    Sie hatte ziemlich schnell herausgebracht, daß ich mich bei Wiemers keineswegs so wohl fühlte, wie ich es in meinen Briefen pflichtgemäß bekundete. Und als Herr und Frau Nawrotzki sich nur zu gern bereit erklärten, mir ab sofort Asyl zu gewähren, rückte Mami dem Bürgermeister auf den Leib. Sie teilte dem etwas konsternierten Herrn kurz und bündig mit, daß ich erstens sehr sensibel und zweitens seit kurzem Bettnässer sei – beides stimmte mitnichten – und somit individuellere Betreuung brauche. Frau Wiemer sei dazu begreiflicherweise nicht in der Lage, da sie mit bewunderungswürdiger Tüchtigkeit nicht nur den Haushalt, sondern darüber hinaus Vieh, Landwirtschaft und Schwiegermutter versorge. Es gäbe aber ein Ehepaar, nämlich Nawrotzkis, die sich gerne des etwas schwierigen Kindes annehmen würden; und der Herr Bürgermeister hätte doch sicher nichts dagegen?! Er hatte nicht.
    Bei Frau Wiemer legte Mami eine andere, aber nicht minder überzeugende Platte auf. Nachdem sie meiner derzeitigen Pflegemutter ihre uneingeschränkte Bewunderung ausgesprochen hatte, wie prächtig ich aussähe und wie dankbar sie ihr sei, daß sie den dürren Sperling zu einem so kräftigen Kind herausgefüttert habe, bekundete sie ihr Erstaunen darüber, wie Frau Wiemer denn die ganze Arbeit bewältigte. Es sei doch eigentlich unzumutbar, ihr auch noch ein Pflegekind aufzuhalsen. Zumindest diese Belastung könne man ihr jetzt abnehmen, denn es habe sich eine andere Lösung gefunden. Frau Wiemer sträubte sich anstandshalber ein bißchen gegen meinen Auszug; aber ich glaube, sie war doch recht froh, als ich schließlich meine Koffer packte. Gerhard transportierte sie noch am selben Tag mit dem Schlitten zu Nawrotzkis, wo ich mit offenen Armen empfangen und fortan wie das eigene Enkelkind behandelt wurde. Deshalb fiel mir wohl auch die bevorstehende Trennung nicht allzu schwer, als ich Mami am Nachmittag zum Zug brachte.
    »Ich glaube nicht, daß ihr noch lange hier oben bleiben werdet«, meinte sie beim Abschied. »Die Frontlage sieht ziemlich belämmert aus; und vermutlich holt man euch Kinder bald wieder zurück. Aber sag das nicht weiter, sonst gibt es womöglich Ärger.«
    Diese Ermahnung war überflüssig. Während ich früher bedenkenlos alles ausgeplaudert hatte, was ich zu Hause oder woanders aufschnappte, so sagte ich jetzt nie mehr ein Wort zuviel. Manchmal vergaß ich sogar, daß es überhaupt einen Krieg gab. Die Nachrichten im Radio interessierten mich nicht, ich hörte mir allenfalls die Sondermeldungen an, die mit entsprechender musikalischer Untermalung schon eine Viertelstunde vorher angekündigt wurden. Allerdings kamen die immer seltener. Natürlich wußte ich, daß Deutschland die Schlacht um Stalingrad verloren hatte; aber schließlich muß man ja gelegentlich mal verlieren können. Die Indianer hatten doch auch manchmal über die Weißen gesiegt und waren zum Schluß doch geschlagen worden. Das nächste Mal würden wir sicher wieder gewinnen!
    In unserem Klassenzimmer gab es auch keine Karte, auf der der Frontverlauf mit Fähnchen abgesteckt wurde. Da hing nur ein

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