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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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und ich nunmehr einen zweiten Großvater besäße, den ich künftig Opi zu nennen habe. Der neue Opi hatte mir ebenfalls ein paar Zeilen geschrieben und darin beteuert, wie sehr er sich über die neue Enkelin freue (davon hatte ich früher allerdings nie etwas gemerkt!), und daß er hoffe, wir würden uns gut verstehen. Beigelegt war ein Zwanzigmarkschein, und der machte mir das neue Familienmitglied schon entschieden sympathischer.
9
    Ich bin später sehr oft gefragt worden, ob mich die schwermütige ostpreußische Landschaft nicht nachhaltig beeindruckt habe, und immer wußte ich gestehen, daß ich mich daran nicht erinnern könnte. Um Harteck herum war alles flach und grün; im Sommer flach und gelb, wenn das Getreide reifte, und im Winter flach und weiß. Natürlich gab es auch Wald, viel Wald sogar, aber es war mir strikt verboten worden, ihn näher zu erkunden.
    »Wer sich hier nicht ganz genau auskennt, der verläuft sich«, hatte mir Frau Nawrotzki erklärt, zu der ich jetzt Tante Lisbeth sagte. »Bis zum See kannst du natürlich gehen, aber bleib auf jeden Fall auf dem Weg.«
    Der See war nicht sehr groß, tief dunkelblau und lausig kalt. Freiwillig haben wir nur an sehr heißen Tagen darin gebadet, unfreiwillig öfter. Am Ufer lag nämlich ein altersschwacher Kahn, der an mehreren Stellen leckte, aber es galt als eine Art Mutprobe, mit dem morschen Boot über den See zu rudern. Nach der halben Strecke saß man bereits bis zum Bauchnabel im Wasser, und hatte man endlich das andere Ufer erreicht, war der Kahn nahezu vollgelaufen. Irgendwann ist er dann auch mitten im See abgesackt.
    Ich durfte mich an diesen Wasserspielen allerdings erst dann beteiligen, nachdem ich Herrn Nawrotzki mein Fahrtenschwimmer-Zeugnis vorgelegt hatte. Schwimmenkönnen war beim BDM obligatorisch; und wir waren sogar in die Badeanstalt nach Goldap beordert worden, um dort unter Aufsicht eine halbe Stunde lang Runden zu drehen. Mens sana in corpore sano!
    Von der ganzen fremdartigen Natur haben mich am meisten die Himmelschlüsselchen beeindruckt, und das kann wohl nur der verstehen, der in einer Großstadt aufgewachsen ist. Im Grunewald hatte ich bestenfalls mal ein Veilchen gefunden oder im Sommer ein paar wilde Glockenblumen; aber hier in Ostpreußen waren die Waldwiesen im Frühling gelb. Ein Meer von Schlüsselblumen, dazwischen violette Leberblümchen, und die ganze Pracht durfte man pflücken. Ich schleppte die Blumen bergeweise an, füllte sämtliche vorhandenen Vasen, und als die nicht ausreichten, Milchtöpfe und flache Schüsseln. Wenn die Blüten verwelkt waren, holte ich neue. Ich kann heute noch keine Himmelschlüsselchen sehen, ohne ein bißchen wehmütig zu werden.
    Die großen Ferien waren da! Heißersehnt und redlich verdient, denn ich besuchte ja seit Ostern das Gymnasium, und diese Tatsache hatte den bis dato ziemlich gemächlichen Tagesablauf umgekrempelt. War ich bisher fünf Minuten vor acht aus dem Haus gegangen und gemütlich zur Schule spaziert, so mußte ich jetzt um Viertel nach sieben zum Bahnhof gehen – rennen wäre der passendere Ausdruck –, denn um halb acht fuhr der Zug nach Goldap. Erreichte ich ihn nicht, dann war’s aus. Heute würde man sich an die nächste Straßenecke stellen und sein Glück als Anhalter versuchen. Aber damals war diese Methode unüblich, und sie wäre auch zwecklos gewesen. Wann fuhr da schon mal ein Auto? Gebräuchlichstes Verkehrsmittel war das Pferdefuhrwerk. Oder das Fahrrad. Herr Nawrotzki, oder besser Onkel Georg, besaß zwar solch ein Vehikel, und auf ihm lernte ich auch die Anfangsgründe des Radfahrens. Aber es handelte sich um ein uraltes Modell, bei dem sich der Sattel nicht mehr verstellen ließ, und eine Stange in der Mitte hatte es auch noch. Ich war schon sehr stolz, wenn ich fünfzig Meter in mühsamer Strampelei bewältigt hatte, bevor ich samt Rad in den nächsten Straßengraben flog.
    Auf dem Gymnasium hatten wir nicht mehr ›Rechnen‹, sondern ›Mathematik‹, wir zählten nicht mehr zusammen, sondern ›addierten‹, und außerdem lernten wir Englisch, was mich maßlos empörte. Das war schließlich die Sprache unserer Feinde, und bald würde man in ganz Europa Deutsch sprechen. Das hatte der Führer jedenfalls irgendwann mal gesagt, also warum noch Englisch lernen?
    Onkel Georg war anderer Meinung. »Lerne du nur fleißig deine Vokabeln, vielleicht brauchst du sie bald. Ich werde wohl auch meine russischen Sprachkenntnisse wieder ein bißchen

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