Pellkartoffeln und Popcorn
Begeisterung erneut zu aktivieren. Eine Zeitlang hieß es, wir würden eine neue Führerin kriegen, aber die kam nie.
Nur einmal entfaltete sich der ganze BDM-Rummel erneut zu voller Blüte, und das war im Juni, als das Gerücht auftauchte, der Führer würde uns einen Besuch abstatten. Ich begriff zwar nicht, was der ausgerechnet in Harteck wollte, aber möglich war schließlich alles. Außerdem befand sich sein Hauptquartier bekanntlich in Ostpreußen. Wo genau, wußte niemand, aber vielleicht lag die Wolfsschanze ganz in unserer Nähe. Plötzlich wimmelte es in Harteck von BDM und HJ, wir mußten uns jeden Nachmittag vor dem Dorf einfinden, wo wir auf einer Wiese Reigentänze übten, unterstützt von Kindern aus umliegenden Orten. Chöre wurden gebildet, die markige Sprüche von sich zu geben hatten, und Christa memorierte zwei Tage lang ihren Text, mit dem sie dem Führer einen Blumenstrauß überreichen sollte. Sie entsprach mit den langen blonden Zöpfen und den leuchtendblauen Augen ganz und gar dem damaligen Idealbild des deutschen Mädchens, und so war ihr die zweifelhafte Ehre zuteil geworden, im Namen aller Berliner Kinder dem Führer für seine Sorge um die Sicherheit der jüngsten Volksgenossen zu danken.
Zwei Tage vor dem bedeutungsvollen Tag wurde die ganze Sache abgeblasen. Der Führer kam nun doch nicht, was ich ihm persönlich sehr übelgenommen habe. Jetzt konnte mir der ganze BDM endgültig gestohlen bleiben – und diese blödsinnigen Reigentänze schon überhaupt!
Es muß ungefähr zur selben Zeit gewesen sein, als ich Omis inhaltsschweren Brief bekam. Seitdem ich bei Nawrotzkis wohnte, hatten die regelmäßigen Ferngespräche aufgehört, denn dort gab es kein Telefon. Dafür kam jede Woche ein ausführlicher Brief, und in einem fragte Omi ganz beiläufig an, was ich davon hielte, wenn sie noch einmal heiraten würde.
Ich war sprachlos! Mit einer Hochzeit verband ich die Vorstellung von weißem Kleid und Schleier. Außerdem waren die Brautpaare, die ich in Harteck bewundert hatte, alle ziemlich jung gewesen. Sie schritten unter Anteilnahme des ganzen Dorfes feierlich zur Kirche, und später wurde im Dorfkrug sehr ausgiebig und sehr lautstark gefeiert. Nein, also ich konnte mir Omi im Brautkleid nun wirklich nicht vorstellen.
»Alte Leute heiraten doch nicht mehr in Weiß«, belehrte mich Christa, »die ziehen nur Dunkles an und gehen auch nicht in die Kirche, da reicht das Standesamt. So war es bei unserer Nachbarin.«
Frau Nawrotzki verstand meine Entrüstung nicht. »Deine Oma ist doch noch jung und schon so lange Witwe, warum soll sie nicht noch einmal heiraten?«
»Jung? Sie ist doch schon einundfünfzig. Da heiratet man nicht mehr!«
Ich erklärte Omi also, daß ich ihre Idee gar nicht so gut fände. Dabei fiel mir nicht einmal ein, anzufragen, wen sie denn eigentlich zu ehelichen gedenke.
Darüber klärte mich Mami auf. Von ihr kam ein umfangreicher Brief, und als ich ihn erwartungsvoll öffnete, fielen ein paar Fotos heraus. Auf jedem Bild war Omi zu sehen, sehr feierlich in einem dunklen Kostüm mit passendem Hut und Blumenstrauß im Arm, und daneben ein stattlicher Herr mit grauem Schnurrbart, der große Ähnlichkeit mit Herrn Jäger hatte.
Es war Herr Jäger!
»Du weißt doch, daß Omi immer jemanden zum Bemuttern braucht«, schrieb Mami, »und als Frau Jäger gestorben war, hat sie sich um Herrn Jäger gekümmert, für ihn mitgekocht, Blumen gegossen und Strümpfe gestopft. Schließlich hat er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Omi wollte natürlich nicht, und ich habe mir zusammen mit Tante Else Fusseln an den Mund geredet, bis sie endlich ja gesagt hat.«
Später ist mir klar geworden, weshalb Mami extra von Frankreich nach Berlin geeilt war, um ihre Mutter von den Vorteilen eines zweiten Ehestandes zu überzeugen. Sie sah wohl eine nicht so bald wiederkehrende Chance, endlich der unmittelbaren Einflußsphäre von Omi zu entrinnen. Und die wiederum hatte einsehen müssen, daß ihre Tochter im Laufe der Jahre ziemlich selbständig geworden war. Wenn endlich wieder normale Verhältnisse kämen und die Familie sich eines Tages erneut zusammengefunden haben würde, dann könnte es Schwierigkeiten geben. Im übrigen hatte sich Herr Jäger als recht umgänglich erwiesen, Beamter war er auch, und da er ja im selben Haus wohnte, konnte Omi trotz allem noch ein wachsames Auge auf die Parterrewohnung haben. In ihrem nächsten Brief teilte mir Omi mit, daß sie jetzt Jäger heiße,
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