Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
zugelassen.
D’Agosta rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her, als er sich daran erinnerte. Jemand, der nach Ihrer Anwesenheit verlangt, hatte Proctor gesagt. Konnte es sein, dass Pendergast – trotz allem – die Flucht gelungen war? Es wäre nicht das erste Mal. Er unterdrückte die aufkeimende Hoffnung…
Aber nein, das konnte nicht sein. Tief im Inneren wusste er, dass Pendergast tot war.
Jetzt glitt der Rolls den Riverside Drive hinauf. D’Agosta verlagerte nochmals sein Gewicht und blickte auf die vorbeihuschenden Straßenschilder: 125th Street, 130th Street. Sehr schnell traten an die Stelle des gepflegten Viertels bei der Columbia University heruntergekommene Häuser aus braunem Sandstein und leer stehende Mietskasernen. Die Januarkälte hatte die üblichen Herumtreiber nach drinnen getrieben, und im trüben Abendlicht sahen die Straßen verlassen aus.
Weiter vorn, gleich nach der 137th Street, erkannte D’Agosta jetzt die mit Brettern vernagelte Fassade und das kleine, von einem schmiedeeisernen Geländer eingerahmte Podest auf dem Dach von Pendergasts Villa. Beim Anblick der düsteren Umrisse des Riesenkastens lief ihm ein Schauder über den Rücken.
Der Rolls fuhr durch das Tor in dem schmiedeeisernen, mit Spitzen versehenen Zaun und blieb in der überdachten Wagenauffahrt stehen. Ohne auf Proctor zu warten, stieg D’Agosta aus und sah zu den vertrauten Umrissen des weitläufigen Gebäudes hinauf, dessen Fenster mit Blechplatten verdeckt waren und das nach außen hin genauso wirkte wie die anderen verlassenen Villen am Riverside Drive. Drinnen beherbergte es allerdings geradezu unvorstellbare Wunder und Geheimnisse. D’Agosta bekam Herzklopfen. Vielleicht war Pendergast ja doch da und saß in seinem unvermeidlichen schwarzen Anzug in der Bibliothek vor dem prasselnden Kamin, während die tanzenden Flammen merkwürdige Schatten auf sein bleiches Gesicht warfen. Und dann würde er sagen: »Mein lieber Vincent, danke, dass Sie gekommen sind. Darf ich Ihnen ein Glas Armagnac anbieten?«
D’Agosta wartete, bis Proctor die schwere Tür entriegelt und geöffnet hatte. Fahles Licht fiel auf die verwitterte Backsteinfassade. D’Agosta trat vor, während Proctor die Tür sorgfältig hinter ihm verschloss. Sein Herz schlug schneller. Schon allein die Tatsache, wieder in dem herrschaftlichen Haus zu sein, weckte in ihm eine merkwürdige Mischung von Gefühlen: Erregung, Angst, Bedauern.
Proctor wandte sich zu ihm um. »Hier entlang, Sir, wenn ich bitten darf.«
Der Chauffeur ging durch den langen Flur voraus in die Empfangshalle mit der blauen Kuppel. Hier war in Dutzenden Glasvitrinen eine Reihe von sagenumwobenen Sammlerstücken ausgestellt: Meteoriten, Edelsteine, Fossilien, Schmetterlinge. D’Agostas Blick schweifte verstohlen über den Parkettboden bis zum anderen Ende der Lobby, wo die Doppeltür zur Bibliothek offen stand. Falls Pendergast auf ihn wartete, dann dort: Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen würde er in einem bequemen Ohrensessel sitzen und die Wirkung seiner kleinen Inszenierung auf seinen Freund auskosten.
Proctor ging voran in Richtung Bibliothek. Mit klopfendem Herzen betrat D’Agosta den prächtigen Raum, der genauso roch, wie er ihn Erinnerung hatte: nach Leder, Steifleinen und einer Spur von Holzrauch. Allerdings brannte kein fröhlich knisterndes Feuer im Kamin. Es war kühl im Zimmer. Die mit Intarsien geschmückten Bücherwände voller ledergebundener Bände mit Goldschnitt waren im Halbdunkel nur undeutlich zu erkennen. Es brannte nur ein Licht – eine Tiffany-Lampe warf ihren kleinen Lichtkegel von einem Seitentisch in ein Meer der Dunkelheit.
Nach einem Augenblick, in dem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnten, erblickte D’Agosta neben dem Tisch eine Gestalt, die gerade außerhalb des Lichtkreises gestanden hatte und jetzt über den Teppich auf ihn zuschritt. Der Lieutenant erkannte die junge Frau sofort. Es war Constance Greene, Pendergasts Mündel und Assistentin. Sie war um die zwanzig und trug ein langes, altmodisches Samtkleid, das ihre schmale Taille betonte und fast bis zum Boden reichte. Obgleich unverkennbar jung, hatte Constance die Haltung einer Frau vorgerückten Alters. Und auch der Blick ihrer Augen wirkte merkwürdig alt – D’Agosta erinnerte sich an diese Augen voller Erfahrung und Bildung und an ihre altmodische, ja altertümliche Sprache. Und dann war da noch dieses Andere gewesen, etwas so gerade außerhalb des Normalen, das
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