Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
strauchelte und stürzte, dann lag er schwer atmend auf einem hölzernen Podest. Wenn er einfach nur liegen bleiben würde, absolut still, würden sie ihn vielleicht nicht finden. Aber nein, das war eine törichte Annahme. Sie würden ihn finden, ihn finden und … Er
musste
hier raus, dorthin kommen, wo er sie bekämpfen konnte. Oder abhauen.
Er hörte sie in der Finsternis, sie bewegten sich über den Wehrgang und suchten nach ihm.
Nach dem plötzlichen Verlust seiner Hoffnungen war er wie betäubt vor Kummer und Schmerz. Er musste sich der Tatsache stellen, dass ihm nur noch eines übrigblieb: die Flucht. Nach Mexiko vielleicht oder Indonesien, vielleicht Somalia. Aber zunächst musste er aus diesem finsteren Gefängnis herauskommen, seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Er setzte sich auf und spürte, wie ein hängendes Seil über sein Gesicht hinwegstrich, packte es und begann, sich hinaufzuziehen, aber dann gab das Seil plötzlich nach, und von oben hörte er ein seltsam sausendes Geräusch, und dann, den Bruchteil einer Sekunde später, ging ihm auf, was er getan hatte, was für ein Seil er gezogen hatte, aber da war es bereits zu spät, und sein Leben endete abrupt mit einem kurzen, scharfen
Tschock
.
Nora hörte ein Kratzen, dem ein Zischen folgte, dann sah sie ein flackerndes gelbliches Licht. Pendergast hielt in der Hand ein Stück gerolltes Zeitungspapier, das an einem Ende brannte. Auf dem Zementboden lag eine Patronenhülse, der er das Kordit entnommen hatte, um das Papier in Brand zu stecken.
»Kommen Sie, schauen Sie mal«, sagte er matt.
Pendergast streckte die Hand aus, Nora fasste sie. Ihr tat alles weh, sämtliche Rippen in ihrem Rücken schienen unter der Wucht der Schüsse gebrochen zu sein. Ihr Schädel pochte wegen der neuerlichen Gehirnerschütterung. Pendergasts kugelsichere Weste, die er ihr in der dunklen Zelle gegeben hatte, fühlte sich unter dem Krankenhaushemd unvertraut und schwer an. Sie trat hinter einem Mauerabschnitt einer mittelalterlichen Burg hervor und dort, unmittelbar vor ihr, stand eine Guillotine, die Klinge war unten, ein Körper lag ausgebreitet auf der Rampe. Und in dem Korb darunter sah sie einen Kopf. Den Kopf ihres Kerkermeisters, das eine Auge in Überraschung weit aufgerissen, das andere grauenhaft zerquetscht, baumelnd an einem seilartigen Nerv.
»O mein
Gott
…« Sie schlug die Hand vor den Mund.
»Sehen Sie genau hin«, sagte Pendergast. »Das ist der Mann, der für den Mord an Ihrem Mann und Caitlyn Kidd verantwortlich ist. Der Mann, der Colin Fearing und Martin Wartek getötet und versucht hat, Sie und mich umzubringen.«
»Warum?«
»Ein nahezu perfekt choreographiertes – oder sollte ich besser sagen: geschriebenes – Drama. Das ausschlaggebende Motiv werden wir kennen, wenn wir ein bestimmtes Dokument gefunden haben.« Seine Stimme klang so leise, so flüsternd, dass sie sie kaum hörte. »Aber jetzt müssen wir einen Krankenwagen rufen. Wenn … wir hier fertig sind.«
Nora starrte auf die Szene des Grauens und merkte, dass sie durch den Schleier ihrer Schmerzen tatsächlich eine gewisse grimmige Katharsis empfand. Sie wandte sich ab.
»Genug gesehen?«
Sie nickte. »Wir müssen hier raus. Sie bluten sehr stark.«
»Esteban hat meine Weste verfehlt. Ich glaube, die Kugel hat meine linke Lunge durchschlagen.« Er hustete, Blutbläschen traten aus seinem Mund.
Indem sie die Papierfackel als Lichtquelle nutzten, gingen sie unter großen Schmerzen durch das Kellergeschoss, die Treppe hinauf, über den schattigen Rasen und zur Villa. Dort im nachtdunklen Wohnzimmer half Pendergast Nora aufs Sofa, nahm das Telefon zur Hand und wählte 911.
Und dann brach er bewusstlos auf dem Boden zusammen, wo er in der sich ausbreitenden Lache des eigenen Blutes reglos liegen blieb.
[home]
85
Mit Einbruch der Dunkelheit war es im 7. Stock des North Shore University Hospital still geworden. Das Quietschen der Rollstühle und Krankenbetten, die Glockentöne und Ankündigungen aus den Lautsprechern der Schwesternstationen hatten fast aufgehört. Dennoch waren Geräusche zu hören, die nie endeten: das Zischen der Beatmungsgeräte, das leise Schnarchen und Murmeln der Patienten, das Bimmeln und Piepen der medizinischen Monitore.
D’Agosta hörte nichts davon. Er saß da, wo er die vergangenen achtzehn Stunden gesessen hatte, neben dem Einzelbett in dem Krankenzimmer. Er hielt den Blick zu Boden gerichtet und ballte und öffnete immer wieder die
Weitere Kostenlose Bücher