Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Lichtstreifen auf die überdachte Veranda. Ein leichter Nebel trieb über den verwilderten Rasen und das Unkraut im Garten. Hinter dem Haus sangen Zikaden schläfrig in den Hainen der Sumpfzypressen und den Mangrovensümpfen. Die Kupferleisten an den Balkonen im ersten Stock waren von einer dicken Schicht Grünspan überzogen. Kleine abgeplatzte Placken weißer Farbe wölbten sich von den Säulen. Haus und Anlage verströmten eine Atmosphäre der Feuchtigkeit, Vergessenheit und Vernachlässigung.
Ein sonderbarer Gentleman, klein und untersetzt, gekleidet in einen schwarzen Cutaway und mit einer weißen Nelke im Knopfloch, stieg aus dem Mercedes. Er wirkte mehr wie ein Oberkellner eines englischen Herrenclubs zu Beginn des 20. Jahrhunderts und weniger wie ein Rechtsanwalt aus New Orleans. Trotz des Sonnenlichts trug er einen fest eingerollten Regenschirm akkurat unter den Arm geklemmt. In der anderen, rehbraun behandschuhten Hand hielt er eine Alligatorenhaut-Aktentasche. Er setzte seinen Bowler auf und tippte kurz darauf.
»Mr. Pendergast. Wollen wir?« Der Rechtsanwalt zeigte auf einen überwucherten, rechts vom Haus liegenden und von einer Hecke umschlossenen Baumgarten.
»Selbstverständlich, Mr. Ogilby.«
»Vielen Dank.« Der Anwalt ging mit raschen Schritten voran und fegte dabei mit seinen Budapester Schuhen durchs feuchte Gras. Pendergast folgte langsameren Schritts und weniger zielstrebig. Als Mr. Ogilby vor einer Pforte in der Hecke ankam, schob er sie auf. Gemeinsam betraten sie den Baumgarten. Kurz darauf blickte Ogilby verschmitzt lächelnd zurück und sagte: »Kommen Sie, halten wir Ausschau nach dem Gespenst!«
»Ja, das wäre spannend«, sagte Pendergast, ebenso scherzhaft.
Der Anwalt ging rasch weiter auf dem einst mit Kies bestreuten, heute aber mit Unkraut überwucherten Weg. Hinter einer großen Hemlocktanne war ein rostiger Eisenzaun zu sehen, der ein kleines Stück Land umschloss. Hier und da ragten Grabsteine aus Schiefer und Marmor aus dem Gras, einige aufrecht stehend, andere geneigt.
Vor einem der größeren Grabsteine blieb Ogilby, dessen schwarze, mit Bügelfalten versehene Hose inzwischen klitschnass war, stehen, wandte sich um und wartete, die Aktentasche mit beiden Händen umklammernd, bis sein Mandant zu ihm aufschloss. Pendergast ging, sich über das blasse Kinn streichend, nachdenklich auf dem privaten Friedhof umher, bis er schließlich neben dem picobello gekleideten Anwalt stehen blieb.
»Also! Da wären wir wieder!«
Pendergast nickte abwesend. Er kniete sich hin, schob das Gras von der Vorderseite des Grabsteins weg und las laut vor:
Hic Iacet Sepultus
Louis de Frontenac Diogenes Pendergast
2. April 1899 – 15. März 1975
Tempus Edax Rerum
Ogilby, der hinter Pendergast stand, stellte seine Aktentasche auf dem Grabstein ab, löste die Verschlüsse, hob den Deckel an und zog ein Schriftstück heraus. Dann legte er es auf den ein wenig kippelig auf dem Grabstein liegenden Aktenkoffer.
»Mr. Pendergast?« Er hielt ihm einen schweren silbernen Füllfederhalter hin.
Pendergast unterzeichnete das Schriftstück.
Ogilby nahm den Füllfederhalter zurück, setzte seine schwungvolle Unterschrift unter das Dokument, versah es mit einem Notarssiegel, datierte es und steckte es wieder in die Aktentasche. Dann klappte er sie zu und schloss sie ab.
»Fertig! Hiermit wird Ihnen bescheinigt, dass Sie das Grab Ihres Großvaters besucht haben. Und somit werde ich Ihnen die Zuwendungen aus der Stiftung der Familie Pendergast auch weiterhin auszahlen, zumindest bis auf weiteres.« Er lachte auf.
Pendergast erhob sich, worauf Ogilby ihm sein kleines Händchen hinhielt. »Es war mir ein Vergnügen, Mr. Pendergast. Und in fünf Jahren werde ich doch wohl abermals das Vergnügen haben, mit Ihnen zusammenzutreffen?«
»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite – und wird es immer bleiben«, erwiderte Pendergast und lächelte ironisch.
»Ausgezeichnet! Dann mache ich mich jetzt auf den Rückweg in die Stadt. Fahren Sie auch zurück?«
»Ich schaue noch einmal kurz bei Maurice vorbei. Er wäre todtraurig, wenn er erführe, dass ich wieder weggefahren bin, ohne ihm einen Besuch abgestattet zu haben.«
»Ganz recht, ganz recht! Wenn man sich vorstellt, dass er sich nun schon seit – wie vielen Jahren: zwölf? – ohne fremde Hilfe um Penumbra kümmert. Wissen Sie, Mr. Pendergast …« Ogilby beugte sich vor und senkte die Stimme, so, als wolle er ein Geheimnis ausplaudern. »Sie
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