Pendergast 11 - Revenge - Eiskalte Täuschung
besteht weder die Notwendigkeit, mein Kommen oder Gehen zu überwachen, noch meine Frau meinem Schwager gegenüber zu erwähnen …« Er hielt kurz inne. »Sie standen, nehme ich an, mit Judson bezüglich meiner Situation in Verbindung?«
Maurice errötete. »Er ist Arzt, Sir, und hat mich um Hilfe gebeten, vor allem, was Ihre Reisen betrifft. Er befürchtete, Sie könnten etwas Übereiltes tun. Da habe ich mir gedacht, angesichts der Geschichte Ihrer Familie …« Er stockte.
»Das war schon richtig, gewiss. Allerdings hat sich herausgestellt, dass Judson möglicherweise nicht meine Interessen im Blick hatte. Wir hatten ein kleines Zerwürfnis, fürchte ich. Und wie gesagt, ich bin völlig genesen. Sie sehen also, es gibt keinen Grund, ihn über irgendwelche Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten.«
»Gewiss. Ich hoffe, es hat Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet, dass ich mich Doktor Esterhazy anvertraut habe?«
»Überhaupt keine.«
»Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«
»Nein danke. Gute Nacht, Maurice.«
»Gute Nacht, Sir.«
Eine Stunde lang saß Pendergast reglos in dem kleinen Raum, der früher einmal seiner Mutter als Ankleidezimmer gedient hatte. Er hatte die Tür hinter sich abgeschlossen. Das schwere alte Mobiliar war entfernt und durch einen Ohrensessel und einen davor stehenden Mahagonitisch ersetzt worden. Die elegante William-Morris-Tapete war abgenommen und stattdessen eine dunkelblaue Schallisolierung installiert worden. Es gab nichts in dem Zimmer, was die Blicke auf sich gelenkt oder Interesse erregt hätte. Das einzige Licht in dem fensterlosen Raum spendete eine Bienenwachskerze, die auf dem kleinen Tisch stand und deren flackerndes Licht auf die strukturlosen Wände fiel. Es handelte sich um das intimste und abgelegenste Zimmer im Herrenhaus.
In der völligen Stille, die in dem Raum herrschte, richtete Pendergast seinen Blick auf die Kerzenflamme und verlangsamte bewusst seine Atmung und seinen Puls. Mittels der esoterischen meditativen Disziplin des Chongg Ran, die er Jahre zuvor im Himalaya erlernt hatte, bereitete er sich darauf vor, in den höheren Bewusstseinszustand des
stong pa nyid
einzutreten. Pendergast hatte diese uralte buddhistische Praktik mit der Idee vom Gedächtnispalast verbunden, die Giordano Bruno in seiner
Ars Memoriae
entwickelte, und so seine eigene, einzigartige Form der geistigen Konzentration geschaffen.
Er schaute in die Flamme und ließ seinen Blick – langsam, ganz langsam – deren flackerndes Herz durchdringen. Während er reglos dasaß, ließ er zu, dass sein Bewusstsein in die Flamme eindrang, von ihr verzehrt wurde, sich mit ihr zunächst zu einem organischen Ganzen verband und dann – während die Minuten verstrichen – auf einer noch tieferen Ebene zusammenkam, bis ihm war, als seien die Moleküle seines fühlenden Wesens mit denen der Flamme verbunden.
Die flackernde Hitze nahm zu, durchdrang sein geistiges Auge mit einem endlosen, nicht zu löschenden Feuer. Und dann, ganz plötzlich, erloschen die Flammen. Totale Finsternis trat an ihre Stelle.
In vollkommener Gelassenheit wartete Pendergast, dass sein Gedächtnispalast – das Lagerhaus des Wissens und der Erinnerung, in das er sich zurückziehen konnte, wenn er der Leitung bedurfte – vor ihm erschien. Doch es stiegen nicht die vertrauten marmornen Mauern aus dem Dunkel auf. Vielmehr fand er sich in einem schummrigen, wandschrankgroßen Raum mit einer tiefhängenden Decke wieder. Vor sich erblickte er einen mit durchbrochenem Gittermuster versehenen Durchgang, der auf einen Service-Flur hinausging; hinter ihm befand sich eine von jugendlicher Hand mit Rube-Goldberg-ähnlichen Zeichnungen vollgekritzelte Wand.
Es handelte sich um das Versteck namens Platons Höhle, unter der Hintertreppe des alten Hauses in der Dauphine Street, das er und sein Bruder Diogenes immer dann aufgesucht hatten, wenn sie ihre kindlichen Pläne und Projekte schmiedeten … vor dem EREIGNIS , das ihre Kameradschaft für immer beendete.
Es war nun schon das zweite Mal, dass Pendergasts Erinnerungsfahrt eine unerwartete Abzweigung an diesen Ort genommen hatte. Plötzlich von Bangigkeit erfüllt, spähte er in den dunklen Raum ganz hinten in Platons Höhle. Und tatsächlich: Da war sein Bruder, neun oder zehn Jahre alt, in marineblauem Blazer und Shorts, die Uniform der Luther, der Schule, die sie beide besuchten. Er blätterte gerade in einem Bildband mit Gemälden von Caravaggio. Er blickte zu
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