Penelope Williamson
nichts
verstehst.«
Delia zuckte zusammen, erwiderte aber selbstbewußt: »Mrs. Bishop
gibt mir Unterricht. Ich lerne bei ihr Lesen und Schreiben.«
»Das habe ich gehört. Du wirst dein Wissen bei der Arbeit auf den
Feldern bestimmt gut brauchen können.«
Sein Spott schmerzte, und sie stellte ärgerlich das Buch in das
Regal zurück. Als sie sich umdrehte, sah sie seinen nackten Oberkörper direkt
vor sich. Er atmete langsam ein und ließ die Muskeln spielen. Er roch nach
Schweiß, aber sie fand es nicht unangenehm. Trotzdem konnte sie sich nicht
verkneifen zu bemerken: »Ein Bad würde dir nicht schaden.« Zu ihrer Freude
stellte sie fest, daß sich die gespannte Haut über seinen hohen Wangenknochen
rötete. Mit dieser Anspielung hatte sie sich für seinen Hochmut gerächt.
Er blähte die Nasenflügel, preßte die Lippen zusammen und kam noch
näher. Sie wich bis zum Bücherregal zurück, aber er preßte seine Hüfte an sie
und stemmte sich mit den Händen rechts und links neben ihrem Kopf gegen das
Holz. Dann beugte er sich über sie. Delia sah nur noch die einzelnen
Bartstoppeln, die Lachfältchen um die Mundwinkel und die dunklen blauen Augen.
»Warum bist du gekommen?« Seine Worte klangen fast wie ein
Knurren. »Was willst du von mir?«
Delia stieß tonlos hervor: »Tildys Auge ...«
»Ach so ...« Er schüttelte langsam den Kopf und kam noch näher,
bis sich ihre Lippen fast berührten. »Das glaube ich nicht, Delia. Ich glaube,
du willst ...«
»Das Wasser kocht!« piepste Tildy in ihrem Rücken. »Das Wasser
kocht!«
Tyl reagierte nicht, sondern verharrte dicht über ihr. Aber dann
wich er leise fluchend zurück.
Er ging zu Tildy, trat mit ihr an den Tisch und zog darunter einen
Schemel hervor, auf den sie sich stellen mußte. Dann füllte er das kochende
Wasser in eine Schüssel, fügte etwas zerstoßene Kamille hinzu und befahl Tildy,
den Kopf über den Wasserdampf zu halten. Es dauerte nicht lange, und das
Gerstenkorn platzte. Als er den Eiter sah, trocknete er ihr vorsichtig das
Gesicht und untersuchte das Auge. »Tut es noch weh, Tildy?«
»Nein. Bekomme ich jetzt mein Plätzchen?«
Aus der Anrichte holte er eine Blechdose und
gab Tildy zwei große Schokoladenplätzchen. Mit einem Anflug von Eifersucht fragte
sich Delia, welche Frau in Merrymeeting wohl Zeit hatte, für Dr. Savitch
Schokoladenplätzchen zu backen ...
Es gab keinen Grund mehr, länger zu bleiben.
Sie nahm Tildy bei der Hand und ging mit ihr zur Tür. Ihr fiel ein, daß sie Tyl
für die Behandlung bestimmt etwas bezahlen mußte, aber sie hatte kein Geld.
»Du kannst
Nat sagen, was er dir schuldet.«
»In
Ordnung.«
Draußen herrschte inzwischen eine feuchte Hitze. Es regte sich
kein Lüftchen. Delia blieb zögernd auf der Veranda stehen. Tildy stopfte sich
gierig die Plätzchen in den Mund.
Delia brannte eine Frage auf den Lippen, aber
sie wagte nicht, sie Tyl zu stellen. Als Tildy die schwarze Katze entdeckte,
lief sie kauend die Treppe hinunter, aber die Katze verschwand blitzschnell
unter den Stufen. Delias Blick fiel auf das seltsame Zelt. »Was ist das?«
fragte sie, obwohl sie eigentlich etwas anderes wissen wollte, und sah ihn an.
Das hätte sie nicht tun sollen. Er stand breitbeinig in der Tür
und verschlang sie mit seinen Blicken. Schnell senkte sie den Kopf.
»Es ist ein Wigwam«, erwiderte er. »Ich benutze ihn zum Schwitzen
...«
Delia wußte natürlich nicht, was ein Wigwam war oder warum er ein
Zelt zum Schwitzen brauchte. Ihre Verwirrung wuchs, und schließlich stellte sie
ihm die Frage, die sie beschäftigte.
»Hast du
Nat gesagt, ich sei noch Jungfrau?«
Auf diese Frage war er offensichtlich nicht gefaßt. Er zögerte und
erwiderte dann angriffslustig: »Was soll das heißen? War Nat etwa enttäuscht?«
»Wie kannst
du es wagen ...?«
»Oder warst du vielleicht nicht mit ihm zufrieden?« Er kam näher.
Der Zorn funkelte in seinen Augen.
Sie stellte sich seinem herausfordernden Blick und hob stolz das
Kinn. »Bist du immer so unverschämt, wenn du eine Frau verführt hast, oder ist
es meine Schuld, daß du so gemein bist?«
Er lachte bitter, aber es klang gequält, als
er erwiderte: »Ach verflucht, Delia, in Wahrheit bin ich nur eifer ...« Er
brach unvermittelt ab.
»Was bist du?«
»Nichts. Nat wollte von mir wissen, ob du in Boston eine Hure
gewesen bist. Ich habe ihm geschworen, daß du das nicht warst. Mehr habe ich
nicht gesagt.«
Sie hörte kaum seine Erklärung. Sie wußte, daß er
Weitere Kostenlose Bücher