Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
Walter strahlten einander an, während der Admiral unbeholfen die steile Stiege zum Hauptdeck erklomm.
»Ich dachte, du liegst zu Hause im Bett und schläfst tief und fest«, sagte Hugo kleinlaut.
Onkel Walters Schnurrbart bebte. »Es ist erstaunlich, was gewisse Leute alles treiben, wenn sie eigentlich im Bett liegen sollten, stimmt’s?«
»Was willst du damit andeuten?«, fragte Hugo unschuldig.
»Tja, mein Junge, ich weiß schon lange über deine nächtliche Lernerei Bescheid.«
»Dabei habe ich immer so aufgepasst, dass ich keinen Lärm mache!«
»Eben. Ich habe das Schloss und die Türangeln schon ewig nicht mehr geölt, trotzdem quietschen sie immer noch kein bisschen. Da habe ich mir gedacht, dass irgendwer seine Gründe hatte, sie zu ölen.« Walter sprach in ruhigem, freundlichem Ton. »Und als ich dein Gesicht gesehen habe, als wir vor dem Schiff standen, war mir endgültig klar, dass ich dich nicht länger zu Hause festbinden kann.«
»Tut mir leid, dass ich dir nicht gesagt habe, dass ich weggehe.«
»Schon in Ordnung. Ich kann das gut nachvollziehen.«
»Warum hast du mich dann nicht zurückgehalten?«
Onkel Walter zuckte die Achseln. »Ich wollte herausfinden, wie ernst es dir ist. Ich hätte dich nie dazu ermutigt, Entdecker zu werden, aber ich will dir auch nicht im Weg stehen.«
Hugo atmete auf. Er hatte bewiesen, dass er den Mut aufbrachte, sich ganz allein einer Expedition anzuschließen – aber im Grunde seines Herzens war er heilfroh, dass Onkel Walter mitfuhr. Als er das Deck der El Tonto Perdido betreten hatte, hatte ihn eine sonderbare Furcht beschlichen. Sich im Arbeitszimmerseines Onkels mit der Kunst des Kartenzeichnens vertraut zu machen war das eine, diese Kunst auch auszuüben, und das Hunderte Seemeilen fern der Heimat auf dem offenen Meer, etwas ganz anderes.
»Ich überlege die ganze Zeit, wohin die Fahrt eigentlich gehen soll«, sagte er.
»Geht mir genauso. Admiral Lilywhite hat nichts Näheres über seine Pläne verlauten lassen. Vorausgesetzt, er hat überhaupt irgendwelche Pläne.«
»Hoffentlich fahren wir irgendwohin in die Tropen, wo es Urwälder und Vulkaninseln gibt! Dann angeln wir Fische fürs Abendessen und trinken Kokosmilch. Vielleicht wandern wir auch tagelang durch den Urwald und erklimmen den Rand eines Vulkankraters. Vielleicht leben in dem Dschungel ja auch Eingeborene. Die fürchten sich dann vor uns, weil wir weiße Haut haben, und wollen uns gefangen nehmen. Wenn wir ihnen aber dann erklären, dass wir in friedlicher Absicht kommen, laden sie uns in ihre Hütten ein – in Baumhäuser hoch oben in den Wipfeln. Sie schenken uns Speere und Schilde und bitten uns, sie vor feindlichen Stämmen zu beschützen.«
Walter lachte. »Immer langsam, Hugo! Wir haben noch nicht mal Segel gesetzt, da willst du dich schon mit den Eingeborenen anfreunden. Du musst Geduld haben. Die Tage auf See sind lang, und es kann Wochen dauern, bis wir auf Land stoßen.«
»Ich kann’s kaum erwarten!«, erwiderte Hugo grinsend. »Das wird ein richtiges Abenteuer!«
»Ganz bestimmt. Aber erst einmal müssen wir die Ärmel hochkrempeln und unsere Ausrüstung überprüfen.«
Walter und Hugo packten ihre Sachen aus und gingen wieder an Deck. Unterdessen waren auch Oliver Muddel und seineMannschaft eingetroffen. Die ungefähr dreißig Seeleute waren dabei, den Proviant einzuladen. Sie machten allesamt den Eindruck, als hätten sie ein Bad und eine Rasur genauso nötig wie eine ordentliche Mütze voll Schlaf. Ihre Kleider waren fleckig und schmuddelig, sie müffelten betäubend nach abgestandenem Bier und Zigarrenrauch. Neben kistenweise Lebensmitteln schleppten sie auch unzählige Bierfässer in den Laderaum sowie einen großen Lattenkäfig, in dem ein Dutzend Hühner auf und ab stolzierten.
Rupert wollte vor der Abfahrt noch einmal eine Ansprache halten, aber niemand hörte ihm zu. Die Matrosen reichten schon die Bierhumpen herum. Rupert fiel auf, dass sie allesamt torkelten und schwankten. Sogar ihm war bekannt, dass Matrosen nur auf festem Boden derlei Schwierigkeiten haben sollten. Gab es noch eine andere Ursache dafür, dass sie derart wacklig auf den Beinen waren?
»Matrose Muddel!«, rief Rupert, dem es jäh dämmerte. »Halten Sie es für angebracht, dass die Mannschaft hier herumsteht und Bier trinkt?«
Oliver Muddel überlegte. »Auf keinen Fall, Sir Admiral«, erwiderte er dann energisch und wandte sich an seine Kameraden: »Aufgepasst, Leute, der Admiral
Weitere Kostenlose Bücher