Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
eines Nachts und deutete zum funkelnden Firmament empor. Er lehnte die Wange an Hugos Wange, damit sie beide der Bahn seines Zeigefingers folgen konnten. Walter fuhr die Umrisse eines Wagens nach.
»Ich seh ihn!«, rief Hugo aus.
»Man nennt ihn auch den ›großen Bären‹.«
»Wie kann ein Wagen gleichzeitig ein Bär sein?«
»Schau noch mal hin.« Walter zog eine andere Verbindungslinie zwischen den Sternen und malte einen Bären an den Himmel.
Hugo staunte. »Jetzt sehe ich den Bären auch!«
»Ein Kartenzeichner muss immer im Hinterkopf behalten, dass man alles von mehreren Seiten betrachten kann«, verkündete Walter.
Das ließ Hugo auf sich wirken und nickte feierlich.
»Ich schaue gern in den Himmel, wenn es so klar ist«, sagte Walter. »Dann kommt es mir immer vor, als könnte ich unendlich weit sehen.«
Hugo lächelte. »Das kenne ich. Man kann sich dann kaum vorstellen, dass der Himmel je wieder bewölkt sein könnte.«
»Jetzt legen wir uns aber aufs Ohr«, meinte Walter und ließ den Blick ein letztes Mal über den Horizont schweifen. »Wenn ich auf meinen Reisen eins gelernt habe, dann, dass es auf See immer dann brenzlig wird, wenn man am wenigsten damit rechnet.«
»Zieht denn ein Sturm auf? Siehst du was?«
Walter schüttelte den Kopf. »Ich spür’s.«
7. Kapitel
A
utsch!«, jammerte Hugo. Er lag auf Händen und Knien und schrubbte bei strahlend blauem Himmel und sengender Sonne das Deck. Die nasse Bürste war ihm entglitten und seine Hand war über die Eichenplanken gerutscht. Dabei hatte er sich einen Splitter eingezogen.
»Was passiert, Kleiner?«, erkundigte sich Oliver Muddel.
»Bloß ein Splitter. Nicht so schlimm.«
»Vielleicht kommt du besser mit zum Schiffsarzt. Rusty soll sich deinen Finger mal ansehen.«
»Ich dachte, Rusty ist unser Smutje.«
»Allerdings.« Muddel griente. »Er ist ein vielseitiger Mann – und besitzt viele Messer.«
In der Kombüse schnappte sich Rusty Cleaver sofort Hugos Handgelenk und untersuchte den Finger. Er nickte vielsagend und drückte Hugos Hand auf den Tisch.
»Von dem Spreißel befrei ich dich ruckzuck!«, verkündete er, wischte sich die Hand an der blutfleckigen Schürze ab und musterte sein Arbeitsgerät, eine schöne Auswahl an Werkzeugen, die ausnahmslos eine große, scharfe Klinge aufwiesen. SeineWahl fiel auf das Messer, mit dem er soeben das Pökelfleisch zerteilt hatte, das er der Mannschaft zum Abendessen auftischen wollte. Er packte Hugos Handgelenk fester und holte schwungvoll mit dem Messer aus.
»Halt mal!«, rief Hugo. »Du willst mir doch wohl nicht wegen einem kleinen Splitter den ganzen Finger abhacken?«
Rusty brach in schallendes Gelächter aus. Er schaute Oliver Muddel an, der ebenfalls lachen musste.
»Natürlich hack ich dir nicht den Finger ab – ich hack dir gleich die ganze Hand ab! Ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit, mich mit einzelnen Fingern aufzuhalten, ich muss noch einen Kuchen für den Admiral backen.«
»Keine Bange, Kleiner«, sagte Oliver Muddel. »Wir besorgen dir ’nen schönen blanken Haken … wenn es nicht mehr blutet.«
»Ich will aber meine Hand behalten!«, wimmerte Hugo. »Ich hänge dran!«
»Fang bloß nicht an zu flennen«, spottete Muddel. »Das ist doch nicht das Ende der Welt!«
Hugo riss sich los und rannte zur Tür. »Es ist bloß ein harmloser Splitter.«
»Wenn wir ihn nicht rausoperieren, kann sich der Finger entzünden«, unkte Rusty. »Dann kriegst du womöglich Wundbrand. Der Wundbrand kann sich den ganzen Arm hochziehen bis in den Kopf. Dann schrumpft dein Schädel, bis er nur noch so groß ist wie ’ne Faust, und dir fallen die Augen raus. Und dann gehst du jämmerlich und qualvoll zugrunde, ganz egal, wie sehr du um Erlösung bettelst.«
Hugo schaute Rusty Cleaver und Oliver Muddel an.
»Ich überleg’s mir noch mal«, sagte er, ließ die beiden in der Kombüse stehen und verzog sich eilig wieder an Deck.
Das Wetter schlug um. Der Himmel verdunkelte sich, eine frische Brise blähte die Segel. Das Meer glich einem Felsgebirge aus hohen Wellenbergen und tiefen Tälern. Geradeaus bedeckte eine schwarze Wolke den ganzen Horizont und türmte sich bis zum Himmel.
Hugo sah zu, wie die Matrosen die Segel in untypischer Eile einholten. Im Heck stieß er auf Onkel Walter, der eine Unterredung mit Admiral Lilywhite führte.
»Was würden Sie denn vorschlagen?«, fragte Rupert gerade.
»Das ist höchstwahrscheinlich bloß ein Gewitter«, meinte Walter.
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