Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
verlief sich die Menge vor der El Tonto Perdido wieder. Nur Hugo stand noch am Kai und spähte zum Deck empor.
»Warum fragen wir ihn nicht, ob er einen Kartografen braucht?«, wandte er sich an seinen Onkel. »Jetzt, wo ich zwölf bin, brauche ich nicht mehr in die Schule zu gehen. Ich könnte als dein Gehilfe mitfahren.«
Walter lachte gezwungen. »Du tätest weit besser daran, eine Lehre bei einem Bauzeichner oder Schiffsbauer anzutreten«, entgegnete er und zog Hugo weiter. »Außerdem hast du keine Ahnung vom Kartenzeichnen!«
Hugo warf einen letzten Blick auf das Schiff. War es an der Zeit, Onkel Walter die Wahrheit zu gestehen?
3. Kapitel
A
uf dem Heimweg kamen sie an Kuchenverkäufern vorbei, die lautstark ihre Waren anpriesen, und an Kindern, die Fangen und Hüpfkästchen spielten. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, um zuzusehen, wie Schauspieler auf offener Straße ein Stück aufführten, während andere einem Jongleur zujubelten, der seine Kunst mit Holzkugeln vorführte. Vor dem Zunfthaus waren zwei Männer an den Handgelenken an den Pranger gebunden. Die Vorbeigehenden blieben stehen, um sie zu beschimpfen und mit faulem Gemüse zu bewerfen. Hugo überlegte, welches Verbrechen die Männer wohl begangen haben mochten, dass sie solchermaßen bestraft wurden.
Schließlich bogen sie von der Hauptstraße in die enge, schummrige Pfefferkorngasse ab.
Walter schloss die Tür auf und winkte Hugo in das schmale Häuschen.
»Herein in die gute Stube, mein Junge!«
Sie wohnten in einem einfachen Holzhaus mit gestampftem Lehmboden. Eine auf Böcken ruhende Tischplatte mit zwei Sitzbänken nahm fast das ganze Wohnzimmer ein. Des Weiterengab es zwei kleine Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer, das kaum größer als ein Wandschrank war, sowie ein einziges kleines Fenster mit einer prachtvollen Aussicht auf den offenen Rinnstein, in dem das Abwasser an ihrer Tür vorbeiplätscherte.
Walter kniete sich vor den Kamin und stellte ein paar Holzscheite auf den Rost. Dann schlug er zwei Feuersteine gegeneinander und bald erhellte ein kleines Feuer den Raum. Walter legte eine Steckrübe und ein paar Möhren auf den Tisch und fing an, das Gemüse klein zu schneiden.
»Und wie hätte der gnädige Herr sein Gemüse heute Abend gern zubereitet?«, erkundigte er sich.
»Gekocht bitte, wie immer«, erwiderte Hugo schelmisch.
»Aber selbstverständlich, der Herr.« Walter rang sich ein Schmunzeln ab, doch er schämte sich für die Verhältnisse, in denen sie leben mussten. Seit Wochen hatte er keinen Stadtplan mehr verkauft, und seine Ersparnisse, von denen sie jahrelang gezehrt hatten, gingen rasant zur Neige. An Bord eines Schiffes würde Hugo zumindest regelmäßige Mahlzeiten bekommen. Obendrein würde der Junge die Welt sehen, nicht nur den Rinnstein vor der Tür. Aber Walter seufzte bloß. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass noch ein Verwandter auf See umkam.
In dieser Nacht wachte Hugo kurz nach Mitternacht auf. Er trippelte auf Zehenspitzen an Walters Schlafzimmer vorbei und um den Tisch herum. Es war stockfinster, aber Hugo unternahm eine solche nächtliche Wanderung nicht zum ersten Mal und hätte sich auch mit geschlossenen Augen zurechtgefunden. Geräuschlos holte er einen großen Steingutkrug vom Regal und stellte ihn auf den Tisch. Dann angelte er einen Schlüssel aus dem Krug und steckte ihn in die verschlossene Tür des Arbeitszimmers.Als er den Schlüssel umdrehte, hielt er den Atem an, aber Klinke und Scharniere waren gut geölt, und die Tür ließ sich öffnen, ohne dass es quietschte. Hugo schloss die Tür hinter sich und zündete eine Lampe an.
Nachdem er bei seinem Onkel eingezogen war, hatte sich Hugo monatelang mit der Frage beschäftigt, was sich hinter der verschlossenen Tür verbergen mochte. »Nichts, was dich etwas anginge«, hatte Onkel Walter stets geantwortet.
Hugo hatte den Schlüssel per Zufall entdeckt, als er eine verlorene Schachfigur suchte. Die Neugier hatte ihn noch in derselben Nacht durch die Tür getrieben und ihn seither jede Nacht wiederkommen lassen.
Er sah sich um und sein Herz schlug höher. Unzählige Papierrollen lehnten an den unebenen Wänden und lagerten stapelweise in schmalen Holzregalen. Begierig griff er nach einer Rolle und breitete sie auf dem kleinen Tisch aus. Das dicke Papier knisterte laut, als er es mit der flachen Hand glatt strich. Sein Blick schweifte über die Weltkarte.
Hugo liebte den Geruch von Papier, den Duft von Tinte, Öl und
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