Perfect Copy - Die zweite Schöfung
Es war ihm herzlich gleichgültig, ob er die Aufgaben je lösen würde; er genoss es einfach, mit Svenja hier zu sitzen, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
»Hast du so was schon mal gemacht?«, fragte sie. »Mathematische Beweise?«
»Nein«, sagte Wolfgang. »Du?«
»Ich hab bei meinem Vater im Bücherschrank ein Buch über große Mathematiker aufgestöbert. Ist schon ewig her, aber es war gut zu verstehen und total interessant«, erzählte sie. »Der erste Beweis, den ich wirklich verstanden habe, war der von Euklid, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Kennst du den?«
Wolfgang zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ehrlich gesagt bloß den Namen.«
»Es ist ein Widerspruchsbeweis, höchst elegant. Er ist einfach vom Gegenteil ausgegangen, hat also versuchsweise angenommen, dass eine höchste Primzahl existiert und darüber keine mehr.« Sie zog Wolfgangs Block heran und entwickelte den Beweis mit raschen, sicheren Strichen und ohne zu zögern.
Wolfgang sah und hörte ihr zu, aber der größte Teil seiner Aufmerksamkeit wanderte von dem Geschehen auf dem Papier hin zu Svenja selbst. Sie war keines der Mädchen, die einem auf Anhieb ins Auge stechen. Sie hatte glattes, strohblondes, in der Mitte gescheiteltes Haar, das sie in einer Art Pagenschnitt trug, auffallend helle Haut mit ein paar Sommersprossen über der Nase und hellwache Augen von der blaugrünen Farbe tiefen Wassers. Die Augen waren es gewesen, die ihm vor einiger Zeit aufgefallen waren, und erst seit er genauer hinschaute, hatte er bemerkt, dass Svenja eines der schönsten Mädchen an der Schule war…
»… du mir überhaupt zu?«
Wolfgang riss die Augen auf. »Selbstverständlich«, beteuerte er. »Ich bin ganz hin und weg, wie du das machst.«
»Euklid hat das gemacht«, korrigierte sie und deutete auf den Block. »Und so elegant. Diese Schlussfolgerung steht nämlich in völligem Gegensatz zu unserer ursprünglichen Annahme, dass es nur eine begrenzte Anzahl von Primzahlen gibt. Ergo muss es unendlich viele Primzahlen geben. Quod erat demonstrandum.« Sie malte feierlich die Buchstabenfolge q.e.d. unter den Beweis.
»Was bedeutet das jetzt?«, fragte Wolfgang.
Sie schüttelte nachsichtig den Kopf. »Das ist lateinisch und heißt ›was zu beweisen war‹. Damit schließen Mathematiker ihre Beweise ab.«
»Ach so.« Er besah sich die Blätter noch einmal genauer, die sie voll geschrieben hatte. Sie hatte eine schöne, entschiedene Handschrift. Kraftvoll. »Ich glaube, mir fehlen so ziemlich alle Voraussetzungen für diesen Wettbewerb, die einem überhaupt fehlen können.«
Sie stand auf, mit einer raschen, entschiedenen Bewegung. »Das heißt aber nichts«, sagte sie. »Das ist das Schöne an Mathematik. Man muss weder büffeln noch üben, man muss nur verstehen. Wenn man das Prinzip verstanden hat, hat man gewonnen. Das ideale Fach für jemand, der so faul ist wie ich.« Sie wanderte die Regalreihen entlang und studierte die Rückentitel. »Der Rittersbach hat was angedeutet, dass man hier… hmm…«
Vielleicht, überlegte Wolfgang, rührte ihre Unauffälligkeit von ihrer Art her, sich zu kleiden. Im Unterschied zu anderen Mädchen schien sie die aktuellen Modetrends entweder überhaupt nicht wahrzunehmen oder jedenfalls hartnäckig zu ignorieren. Sie trug schlichte, praktisch aussehende Sachen in zurückhaltenden Farben, neben denen die anderen wie Leuchtreklamen aussahen.
»Na also«, hörte er sie sagen. Gleich darauf kam sie mit zwei dicken Wälzern zurück an den Tisch, die in Plastik von genau dem gleichen Hellblau wie ihre Wettbewerbsumschläge gebunden waren. »Alle Aufgaben und Lösungen der Mathematikwettbewerbe von 2000 bis vorletztes Jahr. Fette Beute.«
Es artete in Arbeit aus. Jeder von ihnen nahm sich einen der beiden Bände vor und suchte nach Aufgabenstellungen, die ihren möglichst ähnlich waren. Wolfgang las einige der kürzeren Beweise durch und fand sie mit der Zeit nicht mehr so unbegreifbar wie am Anfang. Auf seltsame Weise ging es ihm mit den Seiten voller Formeln, Buchstaben, griechischer Symbole und seltsamer Sätze ähnlich wie es ihm oft mit schwierigen Etüden gegangen war: Beim ersten Blick auf das Notenblatt waren ihm die Noten wie sinnloses Gestrüpp vorgekommen, undurchdringlich, an falschen Plätzen, ohne Sinn und Verstand angeordnet. Doch wenn er sich darin vertiefte, Takt um Takt die Melodie und den Rhythmus zu erfassen suchte, kam unweigerlich der Moment, in dem sich
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