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Perfect Copy - Die zweite Schöfung

Perfect Copy - Die zweite Schöfung

Titel: Perfect Copy - Die zweite Schöfung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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hatte, und normalerweise brach Cem immer ab vor Lachen, wenn er diese Wörter in Wolfgangs Aussprache hörte. Heute kicherte er nicht einmal. »Und das waren noch gar nicht alle schlechten Nachrichten. Marco Steinmann hat es nämlich außerdem schon immer gewusst. Dass mit dir etwas nicht stimmt. Er ist ganz geil darauf, das in jedes Mikrofon zu sagen, das ihm jemand unter die Nase hält. Und zurzeit ist die Stadt voll von Leuten, die anderen Leuten Mikrofone unter die Nasen halten.«
    »Großartig«, murmelte Wolfgang belämmert.
    »Es ist zum Kotzen, ich sag's dir.«
    »Brauchst du nicht. Merk ich auch so.«
    Cem gluckste. »Weißt du was? Du brauchst mal wieder Umgang mit einem vernünftigen Menschen. Meinst du, du kannst euren Bodyguards sagen, dass sie mich durchlassen sollen?«
    »Ich kann's probieren. Wann willst du kommen?«
    Cem zögerte. »Heute geht nicht. Mein Bruder hat Geburtstag.« Cems Bruder Gürkan war Schauspieler am Theater in Freiburg, und seine Geburtstagsfeste waren legendäre Gelage mit seiner Familie, seinen Kollegen, den Familien seiner Kollegen und so weiter. Cem würde den Rest des Tages voll ausgelastet sein. »Aber morgen Abend nach dem Training.« Cem spielte in der Handballmannschaft der Schule. »Wenn's dir recht ist.«
    »Sehr«, sagte Wolfgang.
    Nach dem Gespräch wählte er die Handynummer der Wachmänner unten am Gartentor und sagte ihnen Bescheid. Kurz darauf klingelte es wieder: Dr. Lamprecht, der sie wissen ließ, dass immer noch kein Bericht aus dem Labor vorläge und heute auch nicht mehr damit zu rechnen sei. Und schließlich rief Herr Jegelin an, um den Cellounterricht am Dienstag abzusagen, aus privaten Gründen angeblich, aber Wolfgang glaubte ihm kein Wort. Das konnte doch alles nur ein böser Traum sein, oder? Er verkroch sich in sein Zimmer, schloss hinter sich ab, und diesmal moserte niemand, er solle Cello üben.
    Bis in die Nacht hinein kritzelte er ganze Blöcke voll mit sinnlosen Formeln, verbiss sich in die Aufgabe, die ihm höhnisch vom Blatt entgegengrinste in ihrer trügerischen Einfachheit. In seinem Kopf walzte ein Mühlrad aus Gedanken herum und herum, Svenja, Marco, die Schule, die Klasse, seine Zukunft, seine Herkunft, Klone, Fernsehen, Zeitungen, immer herum und herum, und alles, was er hatte, war die Aufgabe, eine Hand voll Gleichungen, die ihn herausforderten, ihn lockten, ihn wieder und wieder foppten, ihn so sehr zur Weißglut trieben, dass er in jeder anderen Situation einfach alles in den Papierkorb gefegt hätte. Aber hier und heute brauchte er diese Gleichungen, dieses Problem, das als Einziges im Stande war, ihn so sehr zu beanspruchen, dass er alles andere vergessen konnte.
    Das Abendessen verlief ohne ein Wort, oder jedenfalls konnte Wolfgang sich später nicht erinnern, dass jemand etwas gesagt hätte, denn er hatte die ganze Zeit an Mathematik gedacht. Um Mitternacht war er müde, ging ins Bett und konnte doch nicht schlafen, sondern stand eine Stunde später wieder auf, tigerte ruhelos durchs Haus, den Kopf voller Lösungsansätze, voller fiebriger Fetzen eines Beweises, der ihm ganz nah schien, ihm förmlich vor der Nase herumtanzte. Er wanderte durch die Rechtecke offener Türen, entdeckte geometrische Reihen in den dunklen Bücherregalen, ging barfuss über Fliesenboden und hatte das Gefühl, über die Ebene der komplexen Zahlen zu wandern. Ein paar Fetzen eines Beweises fanden in seinem Hirn zueinander wie Puzzleteile, die plötzlich doch passten, und dann trieb es ihn zurück an seinen Schreibtisch, alles war vergessen, die Zeitungsmeldung, Klone, sogar dieses Mädchen namens Svenja, weil er jetzt der Lösung so nahe war wie nie zuvor, sie beinahe schon berühren konnte, sie fast schon in den Fingerspitzen fühlte. So schnell war der Kugelschreiber noch nie über das Papier gerast, dröhnend laut in der Stille der Nacht, die Zeit war stehen geblieben, und ein Blatt nach dem anderen raschelte beiseite. Buchstaben tanzten, Ziffern drehten Pirouetten, die Zahlen lebten. Er wusste plötzlich, dass er es schaffen würde. Diesmal würde er es schaffen oder vollends durchdrehen.
    Die Zeit war doch nicht stehen geblieben. Draußen begann es, hell zu werden. Vögel fingen an zu zwitschern wie verrückt. Und die mathematische Lokomotive war immer noch in voller Fahrt.
     
    Doch dann, endlich, hatte er es. Die Lösung. Den Beweis, q.e.d. schrieb er darunter, was zu beweisen war. Dann ging er ins Bett und fiel in einen tiefen, traumlosen,

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