Perfect Copy - Die zweite Schöfung
in den Sessel gegenüber von Dr. Lamprecht, und die beiden musterten einander wie Kontrahenten vor einem Kampf.
Die Prozedur selbst war verblüffend simpel. Alles, was der Spezialist zu tun hatte, war, mit einer Art Wattestäbchen einmal kurz über die Innenseite der Wange zu fahren und es anschließend in einem verschraubbaren Glasröhrchen zu verstauen. Die Beschriftung und Versiegelung dieses Röhrchens war es, was die meiste Zeit in Anspruch nahm: Da mussten aufgedruckte Nummern in Formulare übertragen und diese wiederum von den anwesenden Zeugen unterschrieben werden – alles, um sicherzustellen, dass die Proben nicht verwechselt werden konnten.
»Wie funktioniert so ein Gentest eigentlich?«, fragte Wolfgang, als er an der Reihe war.
Der Mann vom LKA war schlank, hatte das Haar so kurz geschoren, dass die Kopfhaut durchschimmerte, und trug eine Krawatte mit tanzenden Saxophonen darauf. Er lächelte bereitwillig. »Was DNS und so weiter ist, weißt du, nehme ich an?«
»Weiß ja wohl inzwischen jeder.« »Okay. Dann weißt du, was ein Gen ist.« »Ein bestimmter Abschnitt auf der DNS.« »Nicht schlecht. Und was tut ein Gen? Wozu ist es da?« »Es, ähm, kodiert Proteine. Wie so eine Art Computerprogramm. Es enthält eine bestimmte Erbinformation, zum Beispiel, dass ich braune Augen habe.«
Der Mann nickte. »Oder fünf Finger an den Händen.« »Und genau das verstehe ich nicht«, meinte Wolfgang. »Ich meine, die meisten Gene müssen doch bei allen Menschen dieselben sein – das mit den fünf Fingern an der Hand, oder wie eine Lunge funktioniert und so weiter. Da kann es doch nur minimale Unterschiede geben, oder?«
»Richtig. Weniger als ein zehntel Prozent.« »Und wie finden Sie die? Ich meine, zwei komplette DNS-Stränge miteinander zu vergleichen – das muss doch Jahre dauern!«
Der Mann vom LKA strich sich über den glatt geschorenen Schädel. »Stimmt genau. Deshalb machen wir es auch anders.« Er nahm ein Blatt Papier zur Hand, die Rückseite eines falsch ausgefüllten Formulars, und kritzelte ein paar parallele Linien darauf, die wohl DNS-Stränge darstellen sollten. »Der Witz ist, dass es auf der DNS zwischen den Genen mehr oder weniger lange Abschnitte gibt, in denen kurze Basenfolgen immer wieder wiederholt werden. Das liest sich dann zum Beispiel wie TATACACA, und beim einen kommt es zweimal hintereinander, beim anderen fünfzigmal. Wozu das gut sein soll, weiß man nicht; die meisten Wissenschaftler vermuten, dass diese Abschnitte überhaupt keine Funktion haben. Dass sie so was wie Leerzeichen in einem Text sind. Allerdings ziemlich bunte, und nicht zwei Menschen weisen genau dasselbe Muster davon auf. Das heißt, diese Abschnitte, die man übrigens ›Mikrosatelliten‹ nennt oder ›Oligonukleotide‹, bilden etwas, das genauso einzigartig ist wie ein Fingerabdruck. Der Ausdruck ›genetischer Fingerabdruck‹ ist also durchaus richtig.«
Wolfgang betrachtete das Blatt und die wilden, kaum zu verstehenden Krakel darauf nachdenklich. Davon hatten sie in der Schule auch nie etwas gehört.
»Ich schlage vor«, knurrte Dr. Lamprecht dazwischen, »Sie beenden jetzt den Biologieunterricht und machen sich stattdessen an die Arbeit, die Unschuld meines Klienten festzustellen.«
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Danach gingen der Staatsanwalt und seine Leute. Kurz darauf ging Rechtsanwalt Dr. Lamprecht auch. Wolfgang blieb im Wohnzimmer sitzen und hörte seine Mutter, die sich die ganze Zeit nicht hatte blicken lassen, in der Küche schreien und weinen, zeitweise unterbrochen von Vaters grollender Bassstimme. Er verstand nichts von dem, was gesagt oder geschrien oder geweint wurde, hörte nur nach einer Weile, wie sie beide zusammen die Treppe hochgingen. Wolfgang ging in die Küche, um sich ein paar Brote zu schmieren. Ein Stillleben verknüllter, voll geweinter Papiertaschentücher belegte den Küchentisch. Kein schöner Anblick. Er machte, dass er fertig wurde, und als er mit seinem Teller auf sein Zimmer ging, sah er Vater aus dem Schlafzimmer kommen, die alte Arzttasche in der Hand. Was wahrscheinlich hieß, dass er Mutter eine Beruhigungsspritze gegeben hatte.
Dann hockte Wolfgang an seinem Schreibtisch, mampfte die Brote hinab und wusste nicht, was er denken sollte. Nach einer Weile trieb es ihn, hinauszuschleichen und die Abfallbehälter in den Badezimmern zu durchsuchen. Tatsächlich fand er eine Ampulle, in der noch ein Tropfen einer wasserklaren Flüssigkeit hing, doch irgendwie beruhigte ihn das
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