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Perfect Copy - Die zweite Schöfung

Perfect Copy - Die zweite Schöfung

Titel: Perfect Copy - Die zweite Schöfung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Wolfgang.
    »Wie kommst du dazu, an deinem TALENT ZU ZWEIFELN?« Die letzten drei Worte hatte Vater übergangslos geschrien, in einer Lautstärke, die das Dach abzuheben und den Boden unter seinen Füßen zum Beben zu bringen schien.
    Wolfgang war zusammengezuckt. Jeder wäre zusammengezuckt in diesem Augenblick. »Was?«, flüsterte er, setzte den Cellokoffer ab, stellte ihn so vor sich, als müsse er dahinter in Deckung gehen.
    »Wie kommst du dazu, auch nur daran zu DENKEN…?« Ein keuchendes Atemholen. Vaters Gesicht wurde dunkler, seine Augen sahen plötzlich aus wie Kugeln aus kaltem, totem Glas. »Wie kommst du dazu, auch nur daran zu denken, mit dem Cellospielen aufzuhören? Sag mir das, mein Sohn. Sag mir, wie du auf diese Idee gekommen bist. Sag mir, wer dich darauf gebracht hat.«
    Die Tür zum Arbeitszimmer schwang auf. Ob von einem Luftzug, vom schieren Schalldruck oder von einer unbeabsichtigten Berührung, Wolfgang wusste es nicht, aber er sah voller Entsetzen, dass dahinter das reine Chaos herrschte, Papiere, Schallplatten, CDs und Kassetten, alles durcheinander auf dem Boden, als habe ein Berserker darin getobt und eine sinnlose Wut an wehrlosen Gegenständen ausgelassen.
    Mutter stand mit einem Mal auf der Treppe, auf halber Höhe, im Gesicht weiß wie ein Leintuch. »Richard, so beruhige dich doch«, bat sie. Plötzlich dämmerte Wolfgang, was geschehen war.
    »Herr Jegelin hat angerufen.«
    »Ja, das hat er. Das hat er allerdings. Bloß hätte er das viel eher tun sollen, dann wäre es erst gar nicht so weit gekommen.« Die Stimme seines Vaters war zu einem tonlosen Flüstern geworden, das auf seine Art noch ungleich schrecklicher klang als sein Schreien davor.
    »Er hat mir erzählt, dass du nicht übst. Dass du Dinge behauptest wie, du würdest nur mir zuliebe spielen. Mir zuliebe! Ist dir eigentlich klar, was ich alles auf mich genommen habe, um dir diesen Weg zu ermöglichen? Dein unglaubliches Talent für die Musik in Abgeschiedenheit zur Entfaltung bringen zu können, geschützt vor einer gierigen, sensationslüsternen Welt, die jeden Sinn für wahre Werte verloren hat, die nur nach dem nächsten Nervenkitzel hungert, in der alles zum Party-Smalltalk und zum Fernseh-Sensationsbericht verkommt? Anstatt froh zu sein, dass du dich deinen Anlagen gemäß entwickeln kannst, dass du gefördert wirst, ohne in das Korsett einer Familientradition gepresst zu werden, trittst du das, was wir für dich tun, mit Füßen? Obwohl deine Mutter Sängerin war und dein Vater Dirigent hätte werden können, wenn man ihn gelassen hätte, zweifelst du daran, musikalisches Talent zu haben?« Seine Augen funkelten. »Von wem hast du dir das einreden lassen? War es dieses Mädchen?«
    Ein Schrecken durchfuhr Wolfgang, der sich anfühlte, als habe jemand eine glühend heiße Lanze von oben nach unten durch seinen Körper gebohrt. Es war ein Entsetzen, das ihm den Atem raubte, als sei es ein körperlicher Schmerz.
    »Svenja hat nichts damit zu tun«, schrie er.
    »Richard!«, mahnte Mutter noch einmal.
    Vater machte eine wütende, abweisende Handbewegung, ohne den Blick von seinem Sohn zu nehmen.
    »Du wirst dieses Mädchen nicht wieder sehen!«, befahl er.
    »Ich sehe sie jeden Tag«, entgegnete Wolfgang. »Sie geht mit mir in die Schule.«
    »Das ist mir egal. Du wirst sie nicht wieder sehen. Und wenn ich dich dafür auf eine andere Schule schicken muss!«
    Wolfgang wollte noch etwas erwidern, aber er hielt inne und ließ es bleiben, als er den Ausdruck in den Augen seines Vaters sah. Dr. Richard Wedeberg hatte seinen Sohn niemals geschlagen, nicht ein einziges Mal in seinem ganzen Leben, so lange Wolfgang sich zurückerinnern konnte. Aber jetzt, in diesem Augenblick, vor dem Hintergrund seines verwüsteten Arbeitszimmers, wirkte er, als würde etwas unsagbar Furchtbares geschehen, falls es jemals doch so weit kommen sollte.
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    Zunächst lief es auf schlichten Hausarrest hinaus. Wolfgang durfte in die Schule und natürlich zum Cellounterricht, aber er musste unmittelbar danach heimkommen, zu genau festgelegten Uhrzeiten. Keine Besuche, keine langen Telefonate, stattdessen vier Stunden Cello am Nachmittag, ein Wert, der sich ab Samstag, sobald die Pfingstferien begannen, noch steigern würde.
     
    Vater nahm seinen normalen Arbeitsalltag wieder auf, war also den Tag über außer Haus, doch wenn es darum ging, die Einhaltung solcher Vorschriften zu überwachen, war Mutter ebenso unerbittlich, eher noch strenger.

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