Perfect Copy - Die zweite Schöfung
Neben ihm stand ein älterer Mann mit lockigem weißem Haar, der ihm mit einem stolzen Lächeln die Hand auf die Schulter gelegt hatte.
Wolfgang starrte das Foto am Grund der Schublade an und hatte das unwirkliche Gefühl, dass sich der Boden unter ihm aufzulösen begann.
Er wusste nicht, wer dieser Mann war.
Schlimmer noch: Sosehr er sich das Hirn zermarterte, er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wann und bei welcher Gelegenheit dieses Foto gemacht worden war.
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Er schaffte es, den Schlüssel in die Schublade zu legen und sie wieder zuzuschieben, schaffte es sogar, noch rasch die Gläser und Flaschen aus dem Wohnzimmer in die Küche zu schaffen, ehe seine Eltern zur Tür hereinkamen, aber das Foto bekam er nicht mehr aus dem Kopf.
»Hast du Gespenster gesehen?«, fragte Cem, als er abends auftauchte, frisch geduscht und mit der Sporttasche in der Hand.
»So ähnlich«, erwiderte Wolfgang ausweichend. Er hätte ihm zu gern erzählt, was gewesen war an diesem Tag aller Tage, aber es ging irgendwie nicht. Nicht mit seinen Eltern unter demselben Dach. Vielleicht überhaupt nicht.
Beim Abendessen kam der erlösende Anruf: Der Gentest hatte eindeutige Differenzen zwischen Wolfgangs Probe und der seines Vaters ergeben. Wie Dr. Wedeberg prophezeit hatte, lautete das Ergebnis, dass sie beide verwandt, aber nicht genetisch identisch seien. Der Fernseher wurde wieder hervorgeholt, und gemeinsam verfolgten sie in den Nachrichten die Pressekonferenz, auf der ein Sprecher der Staatsanwaltschaft mitteilte, dass alle diesbezüglichen Ermittlungen eingestellt würden.
»Na also«, meinte Cem grinsend. »Jetzt werden sie blöd gucken in der Schule.«
»Hmm«, machte Wolfgang. Irgendwie beruhigte ihn das alles trotzdem nicht.
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Kapitel 11
Am nächsten Tag ging Wolfgang mit einigem Bangen wieder in die Schule. Es wurde genauso grässlich, wie er es sich vorgestellt hatte: Man starrte ihn an, als habe er noch seinen Schlafanzug an und überdies ein lila Geweih auf dem Kopf, man tuschelte hinter seinem Rücken oder wich ihm gleich ganz aus. Anderen schien es ein dringendes Bedürfnis zu sein, ihm herzhaft auf die Schulter zu hauen und zu versichern, dass sie »ja von Anfang an gewusst« hätten, »dass an der Sache nichts dran« sei, was Wolfgang dazu veranlasste, sich zu fragen, ob er erstens wohl mit blauen Flecken auf den Schultern nach Hause kommen würde und zweitens, was diese Leute denn wohl gesagt hätten, wenn »an der Sache« eben doch etwas »dran gewesen« wäre: Hätten sie ihn dann verstoßen? Gelyncht? Geteert und gefedert und aus der Stadt gejagt?
Am liebsten waren ihm noch die, die sich bemühten, so zu tun, als sei nichts gewesen. Obwohl auch das gespielt war, natürlich. Aber immerhin erlaubte es ihm, sich auf seinem Stuhl klitzeklein zu machen und einfach nur dem Unterricht zu folgen, der ihm im Übrigen nicht das Gefühl gab, überhaupt etwas verpasst zu haben. Was er auch nicht anders erwartet hatte.
Und Svenja sah er überhaupt nicht. Das war das Schlimmste. Die Parallelklasse schrieb einen Aufsatz, vier Stunden lang, ohne Pause. Keiner von denen tauchte im Schulhof auf.
Nachmittags hieß es auch noch, die Cellostunde vom Dienstag nachzuholen. Etwas, wozu er gerade absolut keine Lust hatte, aber Mutter bestand darauf. Mittwoch statt Dienstag, das sei so aus dem Rhythmus, dass es ihn völlig rausbringe, argumentierte er erfolglos. Der wahre Grund war natürlich, dass er keinen Ton geübt hatte. Und was das anbelangte, konnte man Herrn Jegelin nichts vormachen.
»Also weißt du, Wolfgang«, sagte er mit äußerst unterkühlter Miene, »ich könnte auch einen nassen Sack hinters Cello stellen und würde das gleiche Maß an Begeisterung spüren wie bei dir. Was ist los?«
Wolfgang schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Ist es wegen dieser Zeitungsgeschichte?«
»Ach, Quatsch.«
»Aber irgendwas ist los, oder?« Herrn Jegelins Blicke bekamen etwas Inquisitorisches. »Deine Gedanken sind weiß der Himmel wo, aber jedenfalls nicht beim Cellospielen.«
»Hmm«, machte Wolfgang und bemühte sich, unverwandt auf die Noten zu sehen. Ein Gedanke an Svenja schoss ihm durch den Kopf, und das brachte ihn auf eine Idee. »Mich beschäftigt da etwas.«
»Aha. Dachte ich mir.«
»Mein Vater hat mal erwähnt, es gäbe in Deutschland eine Art oberste Instanz, was das Cellospiel angeht. Einen Cello-Papst gewissermaßen. Stimmt das?«
Der Cellolehrer legte die Stirn in
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