Perfect Copy - Die zweite Schöfung
Tanten, von seinen Großeltern kannte er nur die Gräber und auch die nicht gut. In einem Fach unten im Wohnzimmerschrank gab es ganze vier Alben mit Fotos darin, und die hatte er sich das letzte Mal angeschaut, als er noch in die Grundschule gegangen war.
Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Wolfgang legte das Foto beiseite und sah auf die Uhr über seinem Bett. Halb zwei. Ganz schön spät. Ganz schön ruhig im Haus.
Er versteckte das Bild sorgfältig wieder, dann löschte er das Licht und wartete, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Von draußen, von der Straße her, drang etwas Licht von den Straßenlaternen herein, die Bäume vor dem Fenster warfen krakelige, unscharfe Schatten. Es war ganz still. Als er sicher war, sich bewegen zu können, ohne irgendwo anzustoßen, stand er auf und öffnete die Tür seines Zimmers.
Stille und Dunkelheit. Er ließ die Tür angelehnt und huschte die Galerie entlang zur Treppe, am Rand, dort, wo nichts knackte. Was würde er sagen, falls Vater oder Mutter ihn erwischten und fragten, was er wollte mitten in der Nacht? Er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass er unbedingt jetzt und sofort diese Fotoalben durchblättern musste, um nachzuschauen, ob sich der unbekannte Mann darin fand. Ob er ein entfernter Verwandter oder einer von Vaters ehemaligen Kollegen war, von früher, als er noch in Berlin gearbeitet hatte.
Die Treppe hinab, lautlos wie eine Katze. Die Wohnzimmertür jammerte leise, und es knackte, als er sie wieder schloss. Er lauschte auf Geräusche, Schritte, irgendwelche Reaktionen. Nichts. Gut.
Hier unten war es dunkler, weil die Büsche direkt vor den Fenstern in den letzten Jahren so hoch und dicht gewachsen waren, dass sie das Licht der Straßenlaternen nicht mehr durchließen. Er bewegte sich langsam, mit ausgestreckten Händen tastend, bis er die kleine Stehlampe in der hintersten Ecke anschalten konnte. Dann holte er die vier Alben.
Eines davon, ein kitschig-rosarotes mit einem dicken roten Herz darauf, enthielt nur die Bilder von der Hochzeitsreise seiner Eltern nach Spanien: Mutter vor Palmen, Mutter vor altem Gemäuer, Mutter beim Bummeln über einen Markt. Wenig ergiebig. Er legte es beiseite und widmete sich dem kleinen Album mit schwarzem Einband, das Vater neulich hervorgeholt hatte. Es enthielt Fotos seiner Familie, allerdings nicht sonderlich viele. Ein Drittel der Seiten waren unbenutzt und etliche Bilder verloren gegangen; nur leere Rechtecke zwischen brüchigen Fotoecken zeugten davon, dass da einmal etwas gewesen sein musste.
Wolfgang betrachtete alte, braunstichige Schwarzweißfotos seiner Urgroßeltern, die ernst und würdevoll dreinblickten und ordentlich frisiert waren, und verblassende Farbaufnahmen seiner Großeltern. Da, das Foto von Großvater Wedeberg, das Vater als Vergrößerung im Arbeitszimmer hängen hatte: die ausgeprägte Nase, aber ein schmaleres Gesicht und ein bitterer Zug um den Mund. Jemand, der unzufrieden war mit sich und der Welt. Bilder seiner Großmutter zeigten eine unscheinbare Gestalt mit grauen Haaren und umschatteten Augen. Von ihr wusste Wolfgang nur, dass sie Krankenpflegerin gewesen war; ein Bild zeigte sie in ihrer altertümlichen Schwesterntracht.
Ein schmales Album mit grünem Leineneinband enthielt Bilder seiner Großeltern mütterlicherseits, die noch weniger Spuren hinterlassen hatten. Auf einem geschleckt wirkenden Hochzeitsfoto lächelten beide gezwungen in die Kamera, ein weiteres, leicht unscharfes Bild zeigte sie neben ihrem neuen Auto stehend. Von Großvater, der zeitlebens stark geraucht hatte und früh an Lungenkrebs gestorben war, gab es nur noch zwei weitere Fotos: auf einem hielt er seine neugeborene Tochter – Wolfgangs Mutter also – behutsam im Arm, das andere musste eine Art Bewerbungsfoto oder die Vergröß e rung eines Passbildes sein, so ernst und sachlich, wie er einen daraus anblickte mit hellen, etwas verschmitzt wirkenden Augen. In ungelenken, kindlichen Buchstaben hatte Wolfgang damals seinen Namen darunter geschrieben: Ewald Dorn. Ja, er erinnerte sich. Diesen Großvater hätte er gerne gekannt.
Es folgten noch eine Reihe von Bildern der verwitweten Großmutter, die nicht wieder geheiratet hatte, sondern ihre Tochter unter großen Entbehrungen allein aufgezogen hatte. Sie wirkte von Bild zu Bild müder, trauriger und gebrochener. Das einzige Foto, auf dem sie zumindest ansatzweise lächelte, war das letzte, das sie zusammen mit Mutter und Vater
Weitere Kostenlose Bücher