Perfekt
Bühne.
»Okay, Jungens, was ist los?« fragte Julie, als einige der älteren Kinder zu singen aufhörten und statt dessen zu tuscheln begannen. Hinter ihrem Rücken verstummten die Gespräche in der Halle. Sie konnte die Schritte eines Mannes auf dem Holzfußboden hören, war aber viel zu beschäftigt, um dem echte Aufmerksamkeit zu schenken, weil es allmählich spät wurde und ihre Schüler nicht mehr die nötige Konzentration aufbrachten. »Willie, wenn du diese möglicherweise einmalige Gelegenheit zum Singen nutzen willst, dann paß jetzt bitte auf«, drohte sie, aber er deutete auf etwas hinter ihr und flüsterte aufgeregt mit Johnny Everett und Tim Wimple. »Miß Timmons«, sagte sie und schaute die Pianistin an, die ebenfalls mit offenem Mund auf das starrte, was da hinter ihrem Rücken vorging. »Miß Timmons - fangen Sie bitte noch einmal von vorne an.« Doch als Julie wieder auf die Kinder blickte, hatte sich der Chor bereits aufgelöst, und unter Führung von Willie Jenkins schlich sich eine kleine Gruppe ihrer Schüler weg von der Bühne. »Wo wollt ihr hin?« rief sie, als sie an ihr vorbeigingen. Sie drehte sich um - und erstarrte.
Zack stand mit herabhängenden Armen keine zehn Meter von ihr entfernt. Ihr erster Gedanke war, daß er wohl endlich ihren Brief gelesen hatte und gekommen war, um das Auto abzuholen. Sie stand da - wagte nicht zu sprechen, wagte nicht, sich zu bewegen - und starrte in das ernste Gesicht, das sie jede Nacht bis in ihre Träume hinein verfolgt und ihr die Tage zur Hölle gemacht hatte.
Willie Jenkins trat vor, und seine Stimme klang feindselig, als er sich an Zack wandte. »Sie sind Zack Benedict?«
Zack nickte stumm, und auf einmal kamen noch ein paar andere Jungen nach vorn und stellten sich vor Julie - als gelte es, sie vor einem Monster zu beschützen, dachte Zack.
»Dann machen Sie mal schnellstens, daß Sie hier wieder rauskommen«, erklang drohend die Stimme eines Jungen, der trotzig sein Kinn vorreckte. »Sie haben Miß Mathison zum Weinen gebracht.«
Zacks feierlicher Blick ruhte auf Julies blassem Gesicht. »Sie hat mich auch zum Weinen gebracht.«
»Jungens weinen nicht«, sagte er verächtlich.
»Manchmal schon - wenn jemand, den sie sehr lieben, ihnen sehr weh tut.«
Willie warf einen kurzen Blick auf das Gesicht seiner geliebten Lehrerin und sah, daß ihr bereits wieder die Tränen in die Augen traten. »Da, schauen Sie! Jetzt bringen Sie sie schon wieder zum Weinen!« Er klang sehr drohend. »Sind Sie deswegen hergekommen?«
»Ich bin hergekommen«, sagte Zack, »weil ich nicht ohne sie leben kann.«
Alle Anwesenden, im Parkett und auf der Bühne, starrten ungläubig auf den weltberühmten knallharten Filmhelden, der hier vor ihrer aller Augen und Ohren ein solches Geständnis ablegte. Julie jedoch bemerkte ihre Blicke nicht. Sie eilte vorwärts, bahnte sich ihren Weg durch die Kinder, ging raschen Schrittes, rannte ... rannte in seine Arme, die sich weit für sie öffneten.
Und sich dann fest um sie schlossen, während seine Hand ihr tränenüberströmtes Gesicht an seine Brust drückte und sie vor den neugierigen Zuschauern abschirmte. Er neigte seinen Kopf und flüsterte heiser: »Ich liebe dich.« Ihre Schultern bebten unter heißen Schluchzern, als sie ihre Arme um seinen Nacken schlang, ihr Gesicht an seiner breiten Brust barg und sich noch fester an ihn drückte.
Am anderen Ende des Saales legte Ted seinen Arm um Katherine und zog sie an sich. »Wie bist du bloß darauf gekommen!« flüsterte er.
Herman Henkleman hatte zwar ein etwas pragmatischeres, aber nicht weniger romantisches Naturell. Er winkte Flossie zu und rief: »Ende der Probe, Leute!« Dann drehte er das Licht aus, was die ganze Turnhalle in tiefe Dunkelheit versinken ließ, und ging nach draußen zu seinem Taxi.
Bis endlich jemand den Lichtschalter gefunden hatte, waren Zack und Julie verschwunden.
»Rein mit euch«, sagte Herman und machte eine weit ausgreifende Geste mit seinem Generalshut, als die beiden Hand in Hand durch das Schultor gerannt kamen. »Wollte schon immer mal ein Fluchtauto fahren«, fügte er hinzu, drückte das Gaspedal voll durch, nachdem die beiden eingestiegen waren, und ließ den Wagen mit einem Satz vorwärts schießen. »Wohin soll's gehen?«
Julie war momentan nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Zu dir nach Hause?« fragte Zack.
»Würde ich nicht empfehlen, wenn ihr in Ruhe rumknutschen wollt«, sagte Herman. »Die halbe Stadt
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