Perfekt
schlimmste ist, daß Julie nahe daran ist aufzugeben. Sie hat viele Träume, aber diese Träume hängen an einem seidenen Faden.« Entschlossenheit lag in Terrys Stimme, als sie fortfuhr: »Ich werde nicht zulassen, daß Julies Talente, ihre Hoffnungen und ihr Optimismus verlorengehen.«
Bei diesen letzten Worten hob Dr. Frazier die Augenbrauen. »Verzeihen Sie, wenn ich das jetzt anspreche, Terry. Aber waren nicht Sie es, die mich dringend davor warnte, irgendwelche Gefühle für einen Patienten zuzulassen?«
Dr. Wilmer, die an ihrem Schreibtisch lehnte, lächelte reumütig, widersprach aber nicht. »Es war wesentlich einfacher, diese Regel zu beachten, als ich noch die Kinder reicher Familien behandelte, die sich >unterprivilegiert< vorkamen, wenn sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag keinen 50 000-Dollar-Sportwagen bekamen. Wenn Sie sich aber längere Zeit mit Kindern wie Julie beschäftigt haben - mit Kindern, die von dem sozialen Netz abhängig sind, das wir zu ihrem Schutz aufgespannt haben, und die auf irgendeine Weise durch die Maschen dieses Netzes gefallen sind -, dann garantiere ich, daß das selbst Ihnen schlaflose Nächte bereiten würde.«
»Ich fürchte, Sie haben recht«, seufzte er und gab ihr den Ordner zurück. »Reine Neugier, aber warum wurde sie eigentlich von niemandem adoptiert?«
Theresa zuckte die Schultern. »Es war Pech und ein schlechter Zeitpunkt. In ihren Unterlagen steht, daß sie, nur wenige Stunden alt, in einer Nebenstraße ausgesetzt wurde. Den Krankenhausberichten zufolge war sie eine Frühgeburt und deshalb besonders schwach. Bis zum Alter von sieben Jahren kränkelte sie viel und mußte wiederholt stationär behandelt werden.
Im Alter von zwei Jahren fanden die Leute von der Vermittlungsstelle Adoptiveltern für sie. Aber noch während der Antrag lief, entschloß sich das Paar zur Trennung, und Julie mußte ins Heim zurück. Schon einige Wochen später fanden sich wieder potentielle Adoptiveltern, die wohl sehr liebevoll mit ihr waren. Dann aber bekam Julie Lungenentzündung, und das Ehepaar - sie hatten bereits ein eigenes Kind im selben Alter verloren - drehte durch und zog den Adoptionsantrag zurück. Anschließend lebte Julie eine Zeitlang bei Pflegeeltern. Das war nur als Zwischenlösung gedacht. Doch wenige Wochen später wurde die Frau, die für Julies Vermittlung zuständig war, bei einem Unfall schwer verletzt und konnte nicht mehr arbeiten. Und dann kam es zu einer richtigen »Komödie der Irrungen<. Julies Unterlagen gingen verloren ...«
»Wie bitte?« stotterte er ungläubig.
»Verurteilen Sie die Leute von der Vermittlungsstelle bitte nicht vorschnell. In den meisten Fällen leisten sie hervorragende Arbeit, sind ausgesprochen zuverlässig und bemüht. Aber auch sie sind nur Menschen. Wenn man bedenkt, wieviel sie zu tun und wie wenig Geld sie dafür zur Verfügung haben, bringen sie sogar wahre Wunder zustande. Jedenfalls hatten die Pflegeeltern ein ganzes Haus voller Kinder zu versorgen, und sie nahmen wohl auch an, daß das Mädchen seiner schwachen Gesundheit wegen nicht vermittelbar sei. Als Julies Situation endlich auffiel, war sie bereits fünf und die Chancen auf Adoption nur noch gering. Auch war sie häufig krank, und als sie zu einer anderen Pflegefamilie gebracht wurde, reagierte Julie auf diese Situation mit asthmatischen Anfällen. Aufgrund ihrer häufigen Erkrankungen verpaßte sie auch einen Großteil der ersten und zweiten Klasse, und nur der Tatsache, daß sie ein >so liebes und gutes Mädchen< war, verdankte Julie es, daß die Lehrer sie trotzdem in die jeweils nächste Klasse vorrücken ließen. Die neuen Pflegeeltern kümmerten sich bereits um drei behinderte Kinder und waren damit so ausgelastet, daß sie gar nicht bemerkten, daß die Kleine in der Schule nicht mitkam. In der vierten Klasse merkte Julie dann selbst, daß sie hoffnungslos zurück war. Von da an gab sie immer wieder vor, krank zu sein, um zu Hause bleiben zu dürfen. Als ihre Pflegeeltern das merkten und darauf bestanden, daß sie zum Unterricht ging, begann Julie die Schule zu schwänzen und sich statt dessen mit anderen Kindern auf der Straße herumzutreiben. Wie ich schon sagte - sie ist lebhaft, tapfer, flink und sehr geschickt. Die anderen haben ihr also beigebracht, wie man in Geschäften stiehlt und wie man die Schule schwänzt, ohne dabei erwischt zu werden.
Den Rest der Geschichte kennen Sie ja bereits. Schließlich wurde sie doch beim Schuleschwänzen und beim
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