Perfektes Timing
dahinter, das um Längen finsterer ist. Er wird mich bei Neumond um meine Jungfräulichkeit bitten. Er wird mein Jungfrauenblut zur Wintersonnenwende trinken. Er wird mich Fenrir, dem Wolfsgott, opfern.
Und all diese Gedanken lassen mich weitergehen, anstatt dass ich umdrehe, was ziemlich erschreckend ist. Nicht einmal der Gedanke daran, dass ich keine Jungfrau mehr bin, hält mich davon ab, weiter dem Geruch nach Rauch und brennendem Fleisch zu folgen, während am Himmel langsam der Mond aufgeht.
Ich bin mir schon fast sicher, mich verlaufen zu haben, als ich zu einer Lichtung komme, auf der tatsächlich ein kleiner, gedrungener Wohnwagen steht – die baufällige Hütte im Herzen des Waldes, in der der dunkle Fremde wartet.
Vor seinem kleinen Heim brennt ein Feuer, und über dem Feuer befindet sich ein einfacher Grill, auf dem etwas vor sich hin brutzelt. T-Shirts hängen an einer halbherzig aufgehängten Wäscheleine, und seine zerlumpten Stiefel stehen in einer Reihe neben der Treppe, die zu der geborstenen Tür führt. Die Buchstaben auf dem Wohnwagen sind vom Regen verwaschen und kaum noch zu lesen: Ace .
Aber die Dunkelheit im Inneren lässt mich erstarren. Die verdammte Dunkelheit, die im Herzen aller Frauen lauert. Oder zumindest von Frauen wie mir. Frauen, die mit Grimms Märchen aufgewachsen sind, immer zwischen den Zeilen nach einer weiteren Bedeutung suchen, darauf warten, dass der Finstere kommt und …
Ich bezweifle, dass all das mir dabei helfen wird, den Bezug zur Realität wiederherzustellen.
Ich gehe zur Tür und mache in letzter Sekunde fast noch einen Rückzieher, aber nachdem ich einen langen Augenblick dagestanden habe und er mich nicht angesprungen hat, kehrt mein Mut wieder zurück. Ich lege meine Hand auf den kaum noch vorhandenen Türgriff. Dabei handelt es sich um eines dieser federunterstützten Schnappschlösser, das ziemlich eingerostet ist und sich erst nicht rührt.
Zum Glück ist die Tür nicht abgeschlossen. Ich muss nur ein wenig daran rütteln und das Knarren und Quietschen der Scharniere überhören.
Und dann mache ich einen Schritt. Danach einen weiteren, bis ich drinnen bin.
Im Inneren riecht es nicht nach gebratenem Fleisch, Staub oder irgendetwas anderem, womit ich gerechnet hätte. Es ist so dunkel, wie es von außen ausgesehen hat, und ich kann kaum etwas erkennen. Die Tür geht fast wieder zu, sodass es hier drinnen noch ein Stück finsterer wird.
Ich versuche, nicht die Hände vor mir auszustrecken, aber dann tue ich es doch.
Und dann, als ich merke, dass ich Dinge anfassen kann, will ich das irgendwie gar nicht. Ich sehe ein kleines Waschbecken, und an jeder Seite befinden sich Regale voll mit allen möglichen Dingen, die ich nicht wirklich erkennen kann. Meine Hände wollen das alles auch gar nicht berühren, stattdessen huschen sie unruhig über dunkle Schatten. Ein Glas mit diesem, eine Dose mit jenem. Das plötzliche Aufblitzen von blau glänzender Farbe auf etwas aus Glas.
Winzige silberne Lichtschimmer breiten sich durch die Schlitze in dem, was Vorhänge oder Gardinen sein könnten, aus und enthüllen umherwirbelnde Muster aus Staub und zarte Umrisse im Dämmerlicht, mehr aber auch nicht. Die Lehnen abgenutzter Stühle rings um einen Tisch, ein ausgebreitetes Hemd, das über etwas anderem liegt. Und am Ende des schmalen, engen Ganges durch sein Heim stehe ich vor einer Koje, in der er offensichtlich schläft.
Offensichtlich, denn er schläft darin.
Ich erschrecke mich, als ich ihn da sehe. Ich glaube, ich erschrecke mich vor allem, weil mir beim Eintreten nicht bewusst war, dass er sich hier drinnen aufhalten könnte. Dass ich seine Anwesenheit nicht gespürt oder gefühlt habe, irritiert mich und bringt mich dazu, zusammenzuzucken. Auch wenn ich im Hinterkopf natürlich weiß, dass ich noch nie jemand war, der es gemerkt hat, wenn sich jemand angeschlichen hat.
Es gelingt mir, wieder ruhig zu atmen und meine Hände von meiner Kleidung zu lösen, und dann sehe ich ihn an, wie er da ausgestreckt liegt, so gut es ihm in der Enge möglich ist, und schläft. Obwohl er geistig nicht anwesend ist, wirkt er nicht weniger einschüchternd auf mich. Das dunkle Haar in seinem Gesicht scheint mit den Schatten zu verschmelzen, und die Rundung seiner Schultern wirkt an diesem engen Ort irgendwie fehl am Platz.
Ich glaube, dass er unter der einfachen Decke nackt ist. Seine Brust ist definitiv unbekleidet. Ich kann das kurze, raue Haar auf seiner blassen Haut
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