Perlentöchter
und den sie oft betrachtete, wenn sie ihrer Mutter die Haare kämmte. Der Ast auf der linken Seite war nicht perfekt, aber für einen ersten Versuch gar nicht so schrecklich. Draußen war Lärm zu hören, das Zeichen, dass ihr Gemahl nach seinen Morgenbesuchen zum Mittagessen nach Hause kam. Rasch legte Louisa das Bild zurück in den Hocker, wo auch der kleine schwarze Malkasten versteckt war, den ihr ein Dienstmädchen in der vorigen Woche besorgt hatte.
Dann setzte sie sich auf den Hocker und begann zu spielen.
In den folgenden Monaten gab es Momente, in denen Louisa versucht war, das Angebot von Avelines Mutter anzunehmen. Nichts, weder die stummen, nervösen Augen ihrer Mutter noch der knappe, höfliche medizinische Rat ihres Gatten bereitete sie auf das starke Anschwellen ihres Bauchs vor oder auf ihre immer schwereren Brüste. Aber das alles verblasste zur Belanglosigkeit, als sie eines Morgens mithilfe ihres Mädchens aus dem Bett kletterte und gleich darauf entsetzt aufschrie, weil Wasser an ihren Beinen auf den Teppich hinablief.
Hinterher verbot Louisa sich jeden Gedanken an die darauf folgenden Gräuel. Die einzige Möglichkeit, diese furchtbaren Qualen auszuhalten, die ihren Körper marterten und ihm weismachten, dass sie den Nachttopf brauchte, war, an das Meer zu denken. An große, graue, granitartige Wellen, die mit einer Wucht jenseits aller Vorstellungskraft niederkrachten. Bloß dass sie ihrer Fantasie entspringen mussten, dachte Louisa in den klaren Momenten zwischen den Schmerzattacken. Denn sie war nie am Meer gewesen, soweit sie sich erinnern konnte, und hatte auch nie die Möwen gehört, die jetzt am Fußende ihres Betts kreischten.
In Gedanken malte sie es. Klatschte große Kleckse Grau und Schwarz und Violett auf das Bild in ihrem Kopf, sodass das Meer mit dem Geruch der Ölfarben toste und die Pinsel die Leinwand peitschten wie die Schmerzen ihren Körper.
Dann, so plötzlich, wie die Wehen begonnen hatten, verebbten sie. Und gerade als Louisa bewusst wurde, dass das Geschrei der Möwen dem eines Babys bemerkenswert ähnelte, kam die Schwärze wie eine dicke Tagesdecke, hüllte sie nach all den Qualen ein auf eine seltsam tröstende Art und hob sie empor an einen Ort, der ihr unbekannt war.
Caroline
Juni 1997
IN MEMORIAM
PHOEBE ISOBEL WRIGHT
Geboren am 8. September 1908
Gestorben am 2. Juni 1997
Ehefrau von Victor Wright
Schwester von Rose und Grace
Tochter von Louisa und Dr. James Mason
Hochgeschätztes Mitglied der
Pfarrgemeinde St Giles
4
Sie waren spät dran. Manchmal dachte Caroline, ihr Mann würde selbst zu seiner eigenen Beerdigung zu spät kommen, wenn er könnte. Wahrscheinlich auch zu ihrer. Nur gut, dass sie beide Sinn für Humor besaßen.
»Es gibt keinen freien Parkplatz«, schimpfte Simon, als wäre ein anderer als sie beide schuld daran, dass sie unpünktlich waren.
Sie warf einen Blick auf sein leicht ratloses Gesicht und fragte sich nicht zum ersten Mal, was ein anderer sehen würde. Einen Mann Anfang vierzig, der sich verhältnismäßig gut gehalten hatte. Das »verhältnismäßig« bezog sich auf eine erfüllende, aber anstrengende Karriere, ganz zu schweigen von einer Familie mit drei lauten Kindern. Haare, die seinen Kinderfotos nach zu urteilen früher einmal blond waren, aber in der Sonne immer noch aufhellten. Breite Schultern und stattliche einhundertundelf Zentimeter Brustumfang, dabei war er eher gut gebaut als gut genährt. Seine ungezwungene, angenehme Art, die die Menschen aufhorchen ließ, vielleicht weil er an ihrem Leben immer aufrichtiges Interesse zeigte. Ein Journalist müsse das haben, versicherte er ihr dann mit einer seriösen Nachrichtensenderstimme, obwohl er sie genauso gut an einen Chartssender anpassen konnte oder an alles andere, wenn es darauf ankam, sich auf sein breites Publikum einzustellen. Ein Funkeln in den Augen, das ihr immer half, das Leben von der halb vollen Seite zu betrachten, so wie er das tat. Und ein Lächeln, das sie innerlich zum Schmelzen bringen konnte, trotz allem, auch wenn das hier wirklich nicht der richtige Zeitpunkt war oder der richtige Ort, um an so etwas zu denken.
»Wären wir früher losgefahren …«, begann sie.
Simon fiel ihr ins Wort, bevor sie ausreden konnte. »Dann hätten wir keinen Spaß gehabt. Oder?«
Seine Hand wanderte über die Automatikschaltung und streichelte sanft die Innenseite ihres rechten Oberschenkels. Caroline musste dem Bedürfnis widerstehen, seine Hand höher zu schieben.
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