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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ein bißchen zu früh, um zum Flughafen zu fahren, und ich sehe noch einmal hinein und notiere einiges. Da kommt dieser Anruf, der mich fürchterlich aufregt, etwas wegen der Stelle, auf die ich hoffe. Es dauert und dauert, plötzlich wird es knapp, ich nehme die beiden Koffer und gehe zur Tür, noch voller Wut, und erst wie ich das offene Außenfach am Handkoffer sehe, fällt es mir ein. Ich hätte ganz schön blöd dagestanden.»
    Ich müßte ihm auch das mit dem Text auf der Straße sagen. Denn wenn er den Verlust entdeckte, würde er sofort zwei und zwei zusammenzählen: Das merkwürdige Anhalten mitten auf der Straße, und von den Reifen war danach plötzlich gar nicht mehr die Rede gewesen. Seine Wut müßte grenzenlos sein, einmal natürlich über die Vernichtung des Texts, und dann darüber, daß Perlmann, der Feigling, nicht einmal den Mut gehabt hatte, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Und diese Wut könnte ihn bewegen, dann doch zu reden.
    Jetzt kam die Abzweigung nach Uscio und dann weiter ans Meer hinunter nach Recco. Perlmann hielt.«Ich muß schnell austreten», sagte er.
    Wenn er die Abzweigung nahm, gab es kein zweites Mal; das war keine Straße für große Lastwagen. Dann ging er nachher neben Leskov die Freitreppe hinauf, und die Katastrophe nahm ihren Lauf. Es gab dann nichts mehr, was sie aufzuhalten vermöchte. Wenn er geradeaus weiterfuhr, kam in etwa zehn Minuten Pian dei Ratti. Perlmann stand reglos da, die Hand zur Tarnung am Hosenschlitz. Er konnte nicht das ganze Geständnis mit all den langen Erklärungen vor sich hin auf das Steuerrad sprechen. Irgendwann mußte er Leskov in die hellen, grauen Augen sehen und ihm sagen, daß er seinen Text vernichtet hatte. Den Text, in den er alles gesteckt hatte. Den Text, der ihm zu der Stelle verholfen hätte. Daß er ihn einfach auf die Straße unter den Auspuff gelegte hatte wie ein Häufchen Abfall, ein Stück Dreck.
    Es war unmöglich.
    Pian dei Ratti. Die Fabrik, die Pinien, das RENAULT-Plakat. Auf die Front mit den großen Lichtern warten. Noch einmal still und stumm neben Leskov sitzen. Noch einmal anfahren, noch einmal der Pfeifton und das Gefühl wegen der Brille.
    Es war unmöglich.
    Perlmann stieg ein und fuhr in Richtung Uscio und Recco weiter. Er fuhr auf der fast leeren Straße schnell, gerade so schnell, daß Leskov nicht protestieren würde. Er wollte nichts mehr denken. Er wollte, daß durch seinen Kopf niemals auch nur noch ein einziger Gedanke ginge. Der Lancia nahm die vielen Kurven mühelos. Nur einmal, bei einer spitzen Rechtskurve, hörte es sich an, als würde der Reifen das eingedrückte Blech touchieren.
    «Ich hätte gedacht, daß wir schneller im Hotel sind», sagte Leskov einmal.«Wann gibt es Abendessen?»
    Als sie in Recco in die Gasse einbogen, die in die Küstenstraße mündete, war es kurz vor sieben. Perlmann hielt bei einer Tankstelle.«Nur einen Augenblick», sagte er und verschwand in der Toilette, wo ihm der Uringestank den Atem verschlug. Er stützte sich aufs Waschbecken und übergab sich. Aber außer Schleim und Magensäure kam fast nichts, es war zum Schluß nur noch ein trockenes Würgen. Das Gesicht im Spiegel war leichenblaß, unter der Nase und am Kinn klebte eingetrocknetes, fast schwarzes Blut, das Haar in der Stirn war feucht von Schweiß. Er schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht und rieb es nachher mit dem Jackenärmel trocken.
    Er müßte sich diesem dicken Russen gegenüber, vor dem er sich ekelte und dessen väterlichen Ton er unerträglich fand, wie einem Beichtvater gegenüber verhalten, mit der Hoffnung auf Absolution. Und er wäre ihm für alle Zukunft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es war nicht auszudenken.
    Aber da gab es diese Rechnung: Daß der Betrug unentdeckt blieb, war jetzt nicht mehr möglich; es gab nichts mehr, absolut nichts, was er noch hätte tun können, um die Entlarvung abzuwenden. Es war also nur noch die Frage, wie viele Personen davon erfuhren – ob die Entdeckung bei Leskov haltmachte oder auch zu allen anderen gelangte. Und ganz nüchtern betrachtet sprach alles dafür, wenigstens den Versuch zu machen. Zu verlieren hatte er nichts mehr.
    Ein dicker Mann kam herein. Perlmann zuckte zusammen, einen Moment lang dachte er, es sei Leskov. Im Augenblick konnte er ihm noch nicht begegnen, er war noch nicht bereit. Er wollte nicht, daß es ein Geständnis auf einer stinkenden Toilette würde. Er schloß sich in einer Kabine ein. Gern hätte er sich hingesetzt und den

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