Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
hinauf.
«Phantastisch!»rief er Perlmann mit atemloser Stimme zu, und sein Arm mit dem übergelegten Mantel machte eine Bewegung, die das ganze Hotel einschloß. Dann drehte er sich um, stützte sich auf die Ballustrade und blickte auf die nächtliche Bucht hinaus.
Perlmann setzte das Gepäck ab. Das Warten auf Leskov war unerträglich. Zwar bedeutete es, daß der Zeitpunkt der Entlarvung für einen Moment hinausgeschoben wurde. Aber dieses Warten war schlimmer als jedes andere Warten, schlimmer auch als das Warten vorhin am Flughafen. Dort war es ein Warten gewesen, an dessen Ende er selbst die Regie übernehmen würde – eine blutige, mörderische Regie zwar, aber er konnte etwas tun, es lag an ihm, was dann passieren würde und wann. Jetzt dagegen konnte er gar nichts mehr tun, er war kein aktiver Teilnehmer an dem nun folgenden Geschehen mehr, sondern nur noch sein Opfer, sein Spielball. Er mußte ohnmächtig warten, bis Leskov aus seiner Versunkenheit aufzutauchen geruhte, um drinnen den Text entgegenzunehmen, der Perlmanns Ende bedeutete. Und er hatte in diesem Warten zu verharren, gleichgültig, ob es nun Stunden, Tage oder Jahre dauern würde. Er hatte sich diese Demütigung selbst zuzuschreiben, sich ganz allein. Aber diese Einsicht war nicht auszuhalten, er konnte nicht länger als einen kurzen Augenblick mit ihr allein bleiben, er würde zerspringen, wenn er sich damit ganz in sich selbst einschlösse, wie es der fürchterlichen Logik der Sache entsprochen hätte. Er brauchte eine Entlastung, jemanden, der wenigstens einen Teil der Schuld mittrug, und so schlug das Gefühl der Demütigung um in blanken Haß auf Leskov, der nun endlich kam, einen verträumten und begeisterten Ausdruck auf dem schwammigen Gesicht.
Er berührte Perlmann am Arm.«Das werde ich dir nie vergessen», sagte er,«daß du mich hierher eingeladen hast, an diesen traumhaften Ort.»
Die Halle war leer, als sie über den glänzenden Marmorboden zum Empfang gingen. Perlmann sah den Text schon von weitem, es gab nur ein einziges Schlüsselfach, aus dem ein Stoß Blätter herausragte. Und jetzt fand die Angst wieder zur gewohnten Ausdrucksform zurück, er spürte das Herz bis zum Hals hinauf schlagen. Es war niemand hinter der Theke. Ich gehe einfach hin und nehme den Text an mich. Der Gedanke überwältigte ihn, er ließ keinen anderen Gedanken mehr zu, kein Abwägen und keinen Widerspruch. Mit raschen Schritten ging er um die Theke herum und nahm den Text aus dem Fach. Er wollte ihn gerade einrollen, um Leskov den Blick darauf zu nehmen, da sagte Signora Morelli hinter ihm:
«Entschuldigen Sie, Signor Perlmann, daß ich Sie habe warten lassen. »
Perlmann erstarrte. Die Wucht des Gedankens, der ihn nach dem Text hatte greifen lassen, mußte erst abklingen, bevor er reagieren konnte.
«Oh, ich muß Sie erschreckt haben», sagte Signora Morelli.«Das wollte ich nicht. »Und jetzt, wo Perlmann ihr ganz zugewandt war, sah sie das Blut an seinen Kleidern.«Dio mio!»rief sie aus und schlug die Hand vor den Mund.«Was ist geschehen?»
Perlmann sah an sich herunter, als müsse er sich auf etwas längst Vergessenes besinnen.«Ach so, das», sagte er dann in einem Ton, als habe Signora Morelli in grotesker Weise allen Sinn für Proportionen verloren,«das war nur ein bißchen Nasenbluten. »Er rollte den Text fest ein und tat es mit soviel Kraft, als wolle er ihn in eine Rohrpost stopfen.«Ich... ich wollte Signor Leskov nur schon mal den Text geben. »Neben ihr stehend machte er über die Theke hinweg die Geste des Vorstellens.«Das ist Professor Vasilij Leskov, von dem ich Ihnen erzählt habe», sagte er auf englisch.
«Benvenuto!» lächelte sie und schüttelte verdutzt die Hand, die ihr Leskov über die Theke hinweg entgegenstreckte.
Während Perlmann, den Text in der Hand, um die Theke herum zurück zu Leskov ging, hatte er das Gefühl, daß seine geistesgegenwärtige Reaktion den allerletzten Rest seiner Kraft verbraucht hatte. In Zukunft würde er nie mehr einer geistesgegenwärtigen Reaktion fähig sein, niemals mehr. Und warum noch diese Anstrengung des Verschleierns. Wenn er den Text oben gleich zu lesen beginnt, ist ohnehin schon in wenigen Minuten alles vorbei. Und zu allem Überfluß kommt es jetzt noch so, daß ich ihm den Text eigenhändig Überreiche.
Signora Morelli hatte Leskov den Block mit den Anmeldeformularen hingeschoben, und nun war er mit dem Ausfüllen beschäftigt. Er war irritiert, als sie sagte, sie
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