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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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wenn ich ihm erkläre, wie es dazu gekommen ist. Und dann hatte er ja offenbar das Unglück mit Agnes nicht vergessen. Was vorhin eine blinde, betäubende Wut ausgelöst hatte, war jetzt auf einmal eine Hoffnung, ein Strohhalm, an den Perlmann sich klammerte: Vielleicht konnte Leskov den Betrug als die Tat eines Menschen betrachten, der durch einen überwältigenden Verlust völlig das Gleichgewicht verloren hatte und gar nicht mehr er selbst war.
    Vielleicht aber, und das war weit wahrscheinlicher, wäre Leskov so konsterniert, daß Perlmann ihn unmöglich bitten könnte, die Sache zu verschweigen. Er würde Zeit brauchen, um die volle Bedeutung des Geständnisses zu erfassen, es würde ihm nur nach und nach klar werden, wie ungeheuerlich Perlmanns Eröffnung war. Er, der Einladende, hatte die Verweigerung der Ausreisegenehmigung, Leskovs politische Unfreiheit also, schamlos ausgenutzt, und ebenso die Bindung an die Mutter, die auch eine moralische Verpflichtung war. Ausgenutzt hatte er auch sein Vertrauen, das ihn bewogen hatte, ihm den ersten Entwurf, also einen unfertigen und insofern intimen Text, ungeschützt zu überlassen. Die Kollegen hatten jetzt diesen vorläufigen, rohen Text in der Hand, einen Text, der unorthodox war und Anstoß erregen konnte. Es war heikel, in dieser Runde überhaupt mit einem solchen Text aufzutreten, Leskov mußte sich bloßgestellt fühlen, und das selbst dann, wenn er auf Perlmanns Bitte einging und nicht als Autor in Erscheinung trat.
    «Gibt es schon einen Termin für die Sitzung mit meinem Beitrag?»fragte Leskov.
    «Donnerstag», sagte Perlmann, und dieser Tag schien ihm in unendlicher Ferne zu liegen, es war ein Tag, den zu erreichen er sich nicht mehr vorstellen konnte, ein Tag, der zwar auf dem Kalender erschien und sozusagen theoretisch existierte, aber ein unwirklicher Tag ohne Morgen, Mittag und Abend, ein Tag, den er nicht mehr erleben würde.
    Perlmanns Bitte hieße, von Leskov zu verlangen, daß er sich hinstellte und sagte, er habe nichts vorzutragen – der unbedarfte Russe, den man aus Mitleid mit seiner politischen Situation eingeladen hatte, als Entwicklungshilfe. Das bedeute, würde er sagen, daß ihm auch die mitgebrachte zweite Fassung hinten im Kofferraum nichts nütze, die könne er dann ja auch nicht vortragen. Überhaupt könne er von seinen Gedanken nichts vortragen, nichts aus seiner gesamten Arbeit der letzten Zeit. Es müsse ja sonst so scheinen, als sei er es, der Perlmann kopiere und sich einfach an sein Thema dranhänge. Zumindest wäre es schreiend auffällig, daß sie beide über sehr ähnliche Fragen auf sehr ähnliche, unorthodoxe Weise schrieben. Ein Argwohn wäre unvermeidlich, und natürlich würde die Frage der Originalität zuungunsten von ihm, dem unbekannten Russen, entschieden. Niemand käme auf die Idee, daß es umgekehrt war, zumal Perlmann, wie es dann aussah, einen richtigen Text vorzulegen hatte, während Leskov allenfalls mündlich aus seiner Arbeit berichten konnte.
    «Weißt du, ich habe da diese Idee, daß man sich die eigene Vergangenheit durch Erzählen aneignen kann», sagte Leskov mitten aus seinen Gedanken heraus.«Besonders diese Idee ist in der neuen Fassung viel klarer geworden. Ich habe lange dafür gebraucht. Ich will nämlich gleichzeitig auch sagen, daß Erinnern in gewissem Sinne Erfinden ist.»Er lachte.«Das muß für dich, wenn du es jetzt so unvermittelt hörst, ziemlich verrückt klingen. Aber ich entwickle es im Text Schritt für Schritt. Und nimm einmal an, rein hypothetisch, es sei was dran: Dann habe ich natürlich sofort die Frage am Hals, was denn Aneignung bei eigenen Erfindungen heißen kann. Das blieb in der ersten Fassung, die du hast, noch ganz unklar. Aber jetzt habe ich die Lösung, glaube ich. Es ist eine ziemlich komplizierte Geschichte, und ich bin froh, daß es mir vor der Abreise schließlich gelungen ist, sie aufs Papier zu bannen. »
    Osvaivat’. Sich aneignen. Das stimmt also. Der Gedanke ging Perlmann ohne sein Zutun durch den Kopf. Er fühlte sich fremd an und losgelöst von allem anderen. Oder eigentlich fühlte er sich überhaupt nicht an. Er war gar nicht richtig gegenwärtig wie ein eigener Gedanke. Eher war es so, als denke er den Gedanken eines anderen. Als denke er nur, jemand anderes denke jetzt diesen Gedanken.
    Leskov zog das Taschentuch hervor, das er Perlmann vorhin angeboten hatte, und schneuzte sich umständlich.«Dabei hätte ich den Text fast noch vergessen. Es ist noch

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