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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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wuβte die Lufthansa meine Privatadresse, wo es doch die dienstliche war, die auf dem Text stand? Kein Mensch in Deutschland weiß, wo ich wohne. (Außer Dir, natürlich.) Immer wieder ging mir das im Laufe des Tages durch den Kopf und kam mir vor wie das schlechterdings unlösbare Rätsel. Man kann natürlich wieder an einen Briefumschlag mit der Privatadresse denken. Aber das hat ja doch ein bißchen was Künstliches (schon wieder ein Deus ex machina!). Und außerdem: Hätten sie dann nicht auch den ominösen Briefumschlag selbst mitgeschickt? Ich jedenfalls hätte es getan. Ein aufgeschlitzter Briefumschlag in den Händen einer Person braucht ja schließlich nicht zu bedeuten, daβ diese Person auch der Adressat ist. Und wenn jemand einen namenlosen Text zugeschickt bekommt, so kann er sich eher noch einen Reim auf die Sache machen, wenn ein an ihn adressierter Umschlag dabei ist, als wenn es überhaupt keinen Anhaltspunkt gibt. (Wenn er ihn nicht gerade aus einem Abfallkorb gefischt hat, wird der jetzige Besitzer des Umschlags ja zu den Bekannten des Adressaten gehören, und unter denen wird sich schließlich der Autor des Texts ausfindig machen lassen.)
    Wie dem auch sei: Die natürlichere Geschichte, so gab ich mir schließlich widerstrebend zu, ist die, daβ ich in Wirklichkeit gar nicht die dienstliche Adresse hingeschrieben habe: Wenn mich das Gedächtnis schon bei der Frage täuscht, ob ich den Text aus dem Koffer genommen habe – warum sollte es mich nicht auch hier täuschen können? Ich habe, entgegen meiner Gewohnheit, die Privatadresse hingeschrieben, das ist alles. Es verunsichert mich, daβ ich mich offenbar so wenig auf mein Gedächtnis verlassen kann. Früher war das nicht so. Eine Erfahrung, die natürlich zu Gorkijs Thema und meiner These paßt (- auch wenn dieser Zusammenhang, wie Du ja weißt, komplizierter ist, als er an der Oberfläche erscheinen kann). Wenn die Erfahrung nur nicht so plump wäre...
    All diesen Erklärungen zum Trotz: Es bleibt ein Hauch des Sonderbaren, Rätselhaften. Als ob sich um diesen Text herum ein Drama abgespielt hätte, von dessen Akteuren ich keine Ahnung habe... Wenn das Gorkij passiert wäre – er hätte etwas draus gemacht!
    Was in den sechs Tagen, die dann kamen, draußen in der Welt passiert ist – ich habe nicht die geringste Ahnung. Nicht einmal ans Wetter kann ich mich erinnern. Ich habe abgetippt, Lücken gefüllt, weitergetippt, den nächsten fehlenden Gedanken rekonstruiert, und so weiter. Solange ich das Tagespensum nicht erfüllt hatte, habe ich einfach nicht aufgehört, egal, wie spät es wurde und wie sehr mir der Rücken weh tat. Die Anspannung war so groß, daβ ich mich sogar überwand und eine verhaβte Nachbarin bat, etwas für mich zum Essen einzukaufen. (Sie traute ihren Ohren nicht. Seither ist unser Verhältnis ausgezeichnet!)
    Von Mittwoch nacht bis Freitag früh dann habe ich den verlorenen Schluß neu geschrieben. Der Text ist längst nicht so gut wie der ursprüngliche. Eigentlich ist es sogar ziemlicher Pfusch. Irgendwie konnte ich die Gedanken vor Erschöpfung nicht mehr richtig zusammenhalten. Und vorübergehend war mir, als sei mein früherer Eindruck, eine stimmige Lösung für das Problem mit der Aneignung gefunden zu haben, pure Einbildung gewesen, eine Fata Morgana. Im Bett war ich nicht, ich habe nur hin und wieder eine halbe Stunde auf dem Sofa gedöst. Ich denke, es gibt einige Tippfehler. Aber kurz nach acht am Freitag morgen war das Ding fertig.
    Durch ein dichtes, märchenhaftes Schneegestöber bin ich langsam ins Institut gegangen und habe dort mehrere Kopien gemacht. Den Moment, wo ich dem Vorsitzenden der Kommission das Manuskript auf den Tisch legte, habe ich ausgekostet. Damit hatte er nicht mehr gerechnet, und man konnte ihm ansehen, daβ er in Bedrängnis geriet. Ich könnte schwören, daß er bereits jemand anderem (ich weiß auch, wem) Versprechungen gemacht hatte, die er jetzt widerrufen mußte. Ich glaube, er haβte mich in diesem Moment richtig.
    Das Wochenende über habe ich nur geschlafen, gegessen, geschlafen. Die Sitzung der Kommission war, wie ich später herausfand, bereits am Montag morgen, und die Entscheidung stand gegen Mittag fest: Sie konnten einfach nicht anders, als mir die Stelle zu geben. (Natürlich hat in dieser kurzen Zeit niemand den Text gelesen. Einmal mehr ging es nur um Äußerlichkeiten wie die Länge.) Aber sie haben mich warten lassen. Kein Mensch hat mich verständigt. Als ich dann

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