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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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wenngleich mir der Zustand gefährlich vorkam, denn er bekam immer mehr auch etwas Selbstzerstörerisches. Zum Beispiel habe ich zu überlegen begonnen, ob es vielleicht tiefere Gründe für mein Versehen gab: daβ ich die Stelle eigentlich gar nicht wollte, oder daβ ich mich von dem Inhalt des Texts zu distanzieren suchte. Meine Unsicherheit wurde so groß, daβ ich Larissa nichts von der Sache erzählen mochte, obwohl sie am Telefon spürte, daβ etwas mit mir nicht stimmte.
    Jeden Tag ging ich ins Institut und wartete auf die Post. Und wenn dann nichts kam, wuβte ich nicht, wie ich die nächsten vierundzwanzig Stunden hinter mich bringen sollte. Es war unmöglich, einen Brief anzufangen. Überhaupt war es unmöglich, irgend etwas zu beginnen. Ich habe viel am Ufer der Neva gestanden. Die Apathie, von der ich spreche: Sie ist durchzogen von einem grauen Warten, daβ alles vorbeigehen möge, ohne die geringste Vorstellung davon, warum es gut sein sollte, wenn alles vorbei wäre. Dazu gehört der-wie soll ich sagen – milde Wunsch, allem ein Ende zu machen. Ich hatte diesen Wunsch schon lange nicht mehr gespürt, ganz im Gegenteil, aber jetzt machte er sich wieder bemerkbar und verschmolz mit der plötzlich von neuem aufbrechenden Trauer über Mutters Tod. Wohin das geführt hätte, wenn der Text dann nicht doch noch aufgetaucht wäre, weiß ich nicht.
    Natürlich habe ich mich gefragt, ob ich unter diesen Umständen nicht wenigstens die erste Fassung vorlegen sollte. Aber nach wenigen Leseproben verwarf ich den Gedanken. Der Text ist einfach zu dürftig und kommt mir in seiner Verworrenheit abstoβend vor. Wie soll man sich mit einem Text präsentieren, der weit unter dem Niveau ist, das man bei dem Thema mittlerweile erreicht hat? Das ist eine gefühlsmäβige Unmöglichkeit. Dann lieber kein Text!
    Als am Mittwoch immer noch nichts kam, nahm ich all meinen Mut zusammen, setzte mich hin und versuchte, alles aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Ich fühlte mich ein biβchen wie in Santa Margherita, als ich mich auf meine Sitzung vorbereitete. Es sind an die zwanzig Stunden gewesen, die ich am Schreibtisch ausharrte, und es war hinterher soviel Rauch in der Wohnung, daβ es selbst mir zuviel war. Dann gab ich auf, und als ich am Donnerstag mittag halbtot aus dem Bett kroch, hatte ich jede Hoffnung auf die Stelle begraben und begann, mich nach Gelegenheitsarbeit umzusehen. (Man tut es ja dann doch, auch wenn es keinen Sinn mehr zu haben scheint.)
    Am Freitag bin ich nur deshalb noch einmal im Institut vorbeigegangen, weil ich ohnedies in der Gegend war. Aus der Art, wie die Gespräche im Flur bei meinem Erscheinen verstummten, mußte ich schließen, daβ ich mit meiner Sendung, die nie ankam, bereits zum Gesprächsthema geworden war. Vasilij Sergeevičs imaginäre Sendung! Und dann passierte es: Wie ich, ohne noch die geringste Hoffnung zu haben, vom Institut nach Hause komme, liegt der Umschlag einfach am Hauseingang! Stell Dir vor, was damit alles hätte passieren können! Daβ es mein Text sein mußte, schloß ich schon von weitem (einmal abgesehen vom Wunschdenken) aus den beiden gelben Aufklebern, denn auch die Adreßschilder der Lufthansa auf den Gepäckstücken, die ich unterwegs gesehen hatte, waren von dieser Farbe. Und dann sah ich auch das rote Etikett für Eilbotenpost, das anders aussieht als bei uns. Beim Rennen der letzten Meter bin ich auf dem Eis fast hingefallen, und den Umschlag habe ich noch auf der Treppe aufgemacht.
    Der Umschlag selbst war nichts Besonderes (nicht zu vergleichen mit demjenigen, den Du damals im Café dabeihattest!), aber stell Dir vor: Die Lufthansa hat sich die Mühe gemacht, den Text zusätzlich noch in eine Plastikhülle zu stecken! Als ich es mir später überlegte, kam mir das zwar ein biβchen grotesk vor, da sich die Hülle nämlich wegen eines defekten Reiβverschlusses nicht mehr schließen ließ, so daβ eine befürchtete Feuchtigkeit (wenn es denn um die gegangen ist – aber worum sonst?) trotzdem an die Blätter gelangt wäre. Aber im ersten Moment war ich ganz platt. Eine solche Sorgfalt!«Deutsche Gründtichkeit», dachte ich im ersten Moment; doch dann ist mir Dein saures Gesicht eingefallen, das ich einmal sah, als Brian dieses Klischee gebrauchte.
    Der Zustand des Texts war ein Schock. Als habe er tagelang im Straβengraben gelegen! Zunächst einmal ist ein Großteil der Blätter verdreckt, stellenweise bis zur Unleserlichkeit. Ferner sind einige

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