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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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immer weiter und weiter, minutenlang. Er hielt erst inne, als er die Nase putzen mußte. Mit zittrigen Händen sammelte er die Blätter auf, setzte sich aufs Sofa und begann von vorn:
     
    St. Petersburg, im Dezember
    Lieber Philipp,
    ich habe ein sehr schlechtes Gewissen, daβ ich Dir erst jetzt schreibe. Dabei hatte ich doch versprochen, wegen des Texts sofort Bescheid zu sagen. Aber wenn ich Dir erzähle, wie alles gekommen ist, wirst Du, hoffe ich, verstehen.
    Heimgekommen bin ich mit großer Verspätung, weil am Moskauer Flughafen wieder einmal ein Chaos herrschte und die Maschine hierher erst mit über einer Stunde Verspätung wegkam, es war schon mitten in der Nacht. Die Passagiere waren heilfroh, daβ es trotzdem noch einen Bus in die Stadt gab, auch wenn seine Heizung nicht funktionierte und es eine eisige Fahrt wurde. Hier war nämlich inzwischen der tiefste Winter hereingebrochen, und wenngleich ich das merkwürdig kalte, fast unirdische Licht irgendwie mag, das von einer Schneedecke noch in der finstersten Nacht ausgeht, so dachte ich doch sehnsüchtig an das glühende und gleichzeitig transparente Licht des Südens, aus dem ich gerade kam. Ich werde nie vergessen, wie mich dieses Licht überwältigte, als ich mit Dir zusammen aus dem Flughafen trat und dann neben dem Parkhäuschen stand (bei dem sturen Mann mit der roten Mütze!). Es kommt mir vor, als seien seither schon wieder Monate vergangen!
    Dabei sind es gerade zwei Wochen. Die allerdings waren ein Alptraum. Denn es war kein Text da, als ich die Wohnung betrat. Die ganze Reise über saβ ich wie auf Kohlen, und über die Verzögerung in Moskau war ich so wütend, daβ ich die Leute reihenweise anschnauzte. Als die Maschine hier zur Landung ansetzte, passierte mir etwas Merkwürdiges, geradezu Paradoxes: Aus lauter Angst, der Text könnte nicht dort sein, wollte ich plötzlich nicht mehr zu Hause ankommen. Der Zustand der Ungewiβheit, der mir manches an meinem Aufenthalt bei Euch verdorben hat und der an jenem Sonntag um so unerträglicher wurde, je näher wir St. Petersburg kamen (was irgendwie auch seltsam ist), dieser Zustand schien plötzlich das kleinere Übel, verglichen mit der befürchteten Entdeckung. Aber natürlich bin ich die Strecke von der Bushaltestelle bis zur Wohnung dann doch so schnell gegangen, wie der Koffer es zuließ, und meine Hände haben – allerdings auch von der Kälte – gezittert, als ich die Tür aufmachte.
    Wie gesagt: Als ich zum Schreibtisch stürzte, war der Text nicht da, ich sah es sofort, denn diesen Text hatte ich auf gelbes Papier geschrieben. Natürlich habe ich mich noch im ganzen Zimmer umgesehen, und auch im Flur, von wo aus ich damals vor der Abreise telefoniert hatte. Aber im Grunde habe ich mir keinen Moment etwas vorgemacht. Um so weniger, als jetzt, wo ich mich wieder am Ort befand, die Erinnerung an das Einpacken des Texts ganz klar und eindeutig war, ich konnte die hastigen Bewegungen förmlich spüren, mit denen ich die Blätter ins Außenfach des Handkoffers geschoben hatte. Ich wuβte sofort: Du muβt ihn unterwegs herausgenommen und liegengelassen haben. Daher auch das Stückchen Gummiband im Reißverschluß.
    Ich hatte eigentlich erwartet, daβ nun eine heftige Verzweiflung über mich kommen würde, vermischt mit ohnmächtiger Wut über meine Schusseligkeit. Und daβ das in den kommenden Tagen des Wartens auf die erhoffte Sendung der Lufthansa anhalten würde. (Es war übrigens sehr gut, daβ Du die Rede auf die Postdauer gebracht hast, ich habe sofort daran gedacht und mich ermahnt.) Aber es war ganz anders, und ich weiß auch jetzt noch nicht, ob ich es für besser oder schlechter als die natürliche Reaktion halten soll. Kaum hatte ich mich hingesetzt, um etwas auszuruhen, da glitt ich, ohne es zunächst recht zu merken, in einen Zustand der Apathie hinein. Ich war froh über die innere Stille, die das mit sich brachte, denn ich hatte Angst gehabt vor der Erregung, der Schlaflosigkeit und allem, was damit verbunden ist. Doch bald ist mir klargeworden, daβ ich mich ganz automatisch in den Zustand hatte zurückfallen lassen, in dem ich mich im Gefängnis eingerichtet hatte – einen Zustand dumpfen Aushaltens, wortlosen Ertragens, der, wie man dort bald lernt, Kräfte spart. Und darüber bin ich sehr erschrocken, denn ich hatte dieses Erleben überwunden geglaubt.
    Ich habe mich aus der Apathie in den nächsten Tagen nicht befreien können, und vielleicht wollte ich es auch gar nicht,

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