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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Plan einer besonderen Veröffentlichung fallengelassen habe. Noch am selben Tag rief er bei der Schulbehörde an und fragte nach der Möglichkeit, als Lehrer eingestellt zu werden. Nicht ohne zweites Staatsexamen, sagte ihm die schnarrende Stimme, und nicht bei der derzeitigen Stellensituation. In jener Nacht träumte er von Signora Medici, die in einem Schottenrock und Bergschuhen vorne stand und aus hellbraunen Büchern Sätze einer unbekannten Sprache vorlas, während er in der Schulbank aufgeregt nach dem Spickzettel suchte.
    Das Training in Langsamkeit fing an zu wirken. Meistens war es nicht mehr nötig, eigens ins Wohnzimmer zur Uhr zu gehen; er hielt einfach inne und hörte das vorgestellte Ticken. Er fing an, auch beim Telefonieren an das Ticken zu denken, und allmählich begriff er, daß Langsamkeit im Reagieren der körperliche Ausdruck von Unbeflissenheit sein konnte. Er war so glücklich über diese Entdeckung, daß er es übertrieb und nun wieder einmal gegen die Neigung zum Fanatismus ankämpfen mußte.
    Hin und wieder, wenn er spät in der Nacht noch im Wohnzimmer saß und die Uhr ticken hörte, versuchte er darüber nachzudenken, warum er die Hände vom Steuer genommen hatte. Wegen Leskov? Wegen sich selbst? Aber es war immer dasselbe: Die Gedanken versiegten, noch ehe sie richtig begonnen hatten. Er war in Gedanken bereit gewesen zu sterben. Aus Verzweiflung zwar, und nicht aus stoischer Gelassenheit. Trotzdem hatte die Erfahrung des nahen Todes etwas in ihm verändert. Freilich war es ein Irrtum zu glauben, diese Veränderung, deren Konturen noch im dunkeln lagen, würde sich ganz von selbst zu größerer Sicherheit und einem Stück innerer Freiheit entwickeln. So einfach war es nicht. Doch was genau war es, was er dazu tun mußte?
    Eines Abends, als er im Fernsehen auf eine alberne Komödie stieß, lachte er zum erstenmal wieder. Dabei fiel ihm der Mann mit dem langen, weißen Schal aus der Flughafenbar ein, und er mußte schlukken. Aber schon beim übernächsten Scherz lachte er wieder.
    Am nächsten Tag besorgte er sich die deutsche Übersetzung von Gorkijs Roman und las, bis er zu der Stelle mit dem Eisloch kam. Rot glänzend nannte Gorkij die Hände, die an den Rand des Eises faßten, das abbrach. Perlmann ging in Agnes’ Zimmer, um das zweite Wort nachzuschlagen. Erst als er die Lücke im Regal sah, kam die Erinnerung an die weggeworfenen Bücher. Er war verblüfft über sein Tun, als habe er jetzt erst davon erfahren.
    Er fand den Roman schwerfällig, und die zahllosen weltanschaulichen Dialoge gingen ihm auf die Nerven. Am liebsten hätte er ihn einfach weggelegt. Aber noch an diesem Tag arbeitete er sich durch weitere hundert Seiten, und er rechnete aus, daß er täglich mindestens hundertzwanzig Seiten bewältigen mußte, wenn er in diesem Jahr noch fertig werden wollte. Oft erlag er der Versuchung, die Aufmerksamkeit zu lockern und den Blick nur über die Seiten wischen zu lassen, ohne richtig zu lesen. Aber er ließ es sich nie durchgehen, sondern blätterte zurück und las mit widerstrebender, aber erbitterter Genauigkeit alles noch einmal, wissend, daß er das meiste sofort wieder vergessen würde. In den ersten Tagen sagte er sich, daß es darum ging, auf diese Weise ein Stück der Gedankenwelt kennenzulernen, in der Leskov im Gefängnis Zuflucht gefunden hatte. Das war er ihm schuldig, dachte er, und stolperte jedesmal über das vage Gefühl, nicht zu wissen, was er da dachte. Erst nach Tagen begriff er, daß es gar nicht das war, was ihn dazu trieb, sich jeden Abend erneut mit der Lektüre zu quälen. Es war vielmehr der diffuse Wunsch, seine Schuld Leskov gegenüber abzutragen und den geplanten Mord zu sühnen. Nach dieser Entdeckung kam er sich lächerlich vor, wenn er das Buch erneut aufschlug. Aber er machte weiter.
     
    Kurz vor Weihnachten rief er noch einmal Maria an. Er wünschte ihr schöne Feiertage und hoffte, sie würde von sich aus etwas über das Löschen seiner Texte sagen. Aber es wurde nicht mehr als ein freundlicher Austausch von guten Wünschen daraus, den man bald beenden mußte, um keine Verlegenheit aufkommen zu lassen. Er würde nie erfahren, wann der gefährliche Text endlich vernichtet wurde, und ob überhaupt.
    Am zweiten Weihnachtstag kam Kirsten. Kaum war sie in der Wohnung, da stürzte sie sich auf den neuen Teppich, betrachtete ihn von allen Seiten und hob ihn schließlich an, um den Stempel zu begutachten. Als sie den Kaffeefleck sah, brach sie in

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