Pern 01 - Die Welt der Drachen
Tages würde sie hinaufsteigen. Sicher hatte man einen herrlichen Ausblick auf das Benden-Gebirge und die Hochebene, die bis zum Fuß des Weyrs reichte.
Vor einer Planetendrehung hatte am Sternstein eine richtige Zeremonie stattgefunden, als der Fingerfelsen kurz die aufgehende Sonne zu berühren schien und damit die Wintersonnenwende markierte.
Doch das erklärte nur die Bedeutung des Fingerfelsens, nicht die des Sternsteines.
Wiederum ein ungelöstes Geheimnis.
Drachenreiter, habt ach t. Wie sollte eine Handvoll von Drachenreitern ganz Pern beschützen?
R'gul konnte nicht leugnen, dass es auf dem Planeten fünf leere Weyr gab. Sie schienen seit undenklichen Zeiten 99
verlassen. Lessa musste ihre Namen und die Rangfolge auswendig lernen: Benden, Hochland, Igen, Ista und Telgar.
Aber er konnte oder wollte ihr nicht erklären, weshalb die Felsenburgen leerstanden.
Und er gab auch keine Antwort auf die Frage, weshalb Benden nur an die zweihundert Drachen beherbergte, obwohl Platz genug für fünfhundert war.
Immer hatte er die Ausrede zur Hand, dass Jora eine
unfähige, neurotische Weyrherrin gewesen sei, die Nemorth zuviel zu fressen gegeben hatte. (Niemand sagte Lessa, weshalb Drachen nicht zuviel fressen durften; ganz besonders sagte ihr niemand, weshalb eitle Freude herrschte, wenn Ramoth sich vollstopfte.) Natürlich, die Drachenkönigin musste wachsen, und sie wuchs rasch.
Lessa lächelte zärtlich, als sie an Ramoth dachte. Sie sah von ihrer Schreibtafel auf. Jenseits des Korridors lag Ramoths Felsenkammer. Sie spürte, dass die junge Königin noch fest schlief.
Lessa seufzte. Sie sehnte sich nach dem tröstenden Blick aus den großen Regenbogenaugen, nach der Unterhaltung mit Ramoth, die ihr das Leben im Weyr einigermaßen erträglich machte.
Manchmal hatte Lessa das Gefühl, dass sie zwei Leben führte: sie war fröhlich und ausgefüllt, wenn sie sich um Ramoth kümmerte, und zutiefst verzweifelt, wenn der Drache schlief. Abrupt brach Lessa ihre niederdrückenden Gedankengänge ab und beugte sich über die Tafel. So verging wenigstens die Zeit rascher.
» Es kommt der Rote Stern. «
Dieser rätselhafte Rote Stern!
Lessa setzte mit einer energischen Geste das Schluss-zeichen.
Sie würde nie jenen Morgen vor mehr als zwei
Planetendrehungen vergessen, als eine unheimliche Vorahnung 100
sie aus dem Schlaf gerissen und ins Freie getrieben hatte.
Damals hatte der Rote Stern über Ruatha gestanden.
Und nun befand sie sich im Weyr. Aber die glänzende
Zukunft, die F'lar ihr in so lebhaften Farben geschildert hatte, war nicht eingetroffen. Anstatt ihre geheimen Kräfte zum Wohle von Ruatha einzusetzen, schleppte sie sich von einem öden Tag zum anderen, angewidert von R'gul und S'lel, gefesselt an die Räume der Weyrherrin (auch wenn sie eine Verbesserung gegenüber der stinkenden Käsekammer darstellten). Nur wenn sie ihre so genannten Lehrmeister nicht mehr ertragen konnte, nutzte sie ihre besondere Fähigkeit aus.
Lessa biss die Zähne zusammen. Ramoth hielt sie hier fest, sonst wäre sie längst nach Ruatha zurückgekehrt und hätte Gemmas Sohn das Erbe entrissen.
Sie nagte an ihrer Unterlippe und lächelte über ihre Spekulationen. Seit sie Ramoth zum ersten Mal in die Augen gesehen hatte, bestand zwischen ihr und der jungen Drachenkönigin ein unauflösliches Band. Nur der Tod konnte sie trennen.
Gelegentlich lebte ein Mann wie Lytol weiter, wenn sein Drache umgekommen war. Aber dann führte er ein
Schattendasein und wurde unaufhörlich von Erinnerungen gequält.
Starb ein Reiter, so begab sich sein Drache ins Dazwischen, jenes eiskalte Nichts, durch das man ohne Zeitverlust weit voneinander entfernte Orte überbrücken konnte. Lessa wusste, dass es für Uneingeweihte gefährlich war, das Dazwischen zu durchqueren. Wer sich länger als drei Atemzüge in diesem Medium aufhielt, war verloren.
Und doch hatte der Ritt auf Mnemenths Rücken den
Wunsch in ihr geweckt, dieses Erlebnis zu wiederholen. Sie war davon überzeugt gewesen, dass man ihr erlauben würde, Ramoth zu reiten. Aber R'gul ließ es nicht zu. Sie war nach Ramoth die wichtigste Person des Weyrs, und er wollte ihr 101
Leben nicht gefährden. So musste sie ohnmächtig zusehen, wie über dem Weyr die halbwüchsigen Jungen mit ihren Drachen Übungsritte veranstalteten, während sie selbst eine Gefangene ihres Amtes war.
Warum sollte eine Königin nicht fliegen können?
Bestimmt besaß sie die gleichen angeborenen Fähigkeiten
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