Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
frontaler und orbitaler Furchen und Windungen. Diese Reihenfolge in der Entwicklung entspricht sehr genau dem erstmaligen Auftreten der sensorischen, motorischen, kognitiven und exekutiven Funktionen der Großhirnrinde.
Das Gehirn des Neugeborenen besitzt alle Furchen und Windungen des ausgereiften Gehirns. Es wiegt zwischen 300 und 400 Gramm und enthält bereits die endgültige Zahl von Neuronen (bzw. sogar mehr, denn es sterben nachgeburtlich noch Zellen ab), die allerdings noch relativ unreif sind. Die anschließende gewaltige Massenzunahme des Gehirns auf durchschnittlich 1300 bis 1400 Gramm im Erwachsenenalter geht vornehmlich auf das Längenwachstum der Dendriten und die Myelinisierung der Axone sowie auf die Zunahme an Gliazellen und Hirnblutgefäßen zurück. Die Feinverdrahtung der Großhirnrinde findet also im Wesentlichen erst nach der Geburt statt.
Entsprechend der anatomischen Entwicklung des Gehirns reifen auch die Sinnessysteme zu unterschiedlichen Zeiten aus. Der Gleichgewichtssinn entsteht am frühesten; er ist bis zum Ende des 5. Schwangerschaftsmonats ausgebildet, gefolgt vom Geruchs- und Geschmackssinn. Der Gesichtssinn entwickelt sich ebenfalls vorgeburtlich. Ab dem 5. Monat bilden sich die ersten visuellen Synapsen, ein starkes Wachstum findet zwischen der 14. und 28. Schwangerschaftswoche statt. Allerdings liegt der Höhepunkt dieser Entwicklung im ersten nachgeburtlichen Lebensjahr, wie bereits geschildert. Wie das Sehen findet auch das Hören bereits vor der Geburt statt, allerdings geschieht dies offenbar subcortical, denn der auditorische Cortex entwickelt sich erst in den ersten zwei Jahren nach der Geburt. Die Grobmotorik ist zusammen mit dem Gleichgewichtssinn weit vor der Geburt vorhanden, ebenso spezifischere Arm- und Handbewegungen, zum Beispiel das Daumenlutschen. Zielgerichtetes Greifen tritt ab dem 4. nachgeburtlichen Monat auf, die Feinmotorik zwischen dem achten und elften Monat, das Loslassen des ergriffenen Gegenstands ab dem 13. Monat. Das Laufenlernen vollzieht sich zum Ende des ersten Jahres, und zwar dann, wenn die motorischen Rindenfelder für Beinbewegungen ausgereift sind. Dieses relativ späte Ausreifen erklärt sich dadurch, dass die Myelinisierung und Feinverdrahtung dieser Rindenfelder vom Kopf zum Fuß voranschreitet.
Ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres werden die Bereiche des Frontallappens langsam funktionsfähig. Es erhöht sich deutlich die Zahl der Synapsen, und dies geht beim Säugling mit differenzierteren Wahrnehmungen und Gefühlen ab dem 10. Monat einher. Mit zweieinhalb Jahren findet ein weiterer Reifesprung des präfrontalen Cortex hinsichtlich des dendritischen Längenwachstums und der synaptischen Feinverknüpfung statt, insbesondere was den präfrontalen Cortex und das Broca-Areal betrifft. Dies wird als Grundlage für die Ausbildung des bewussten Denkens und anderer höherer kognitiver Leistungen, der syntaktisch-grammatikalischen Sprache (s. unten) und des Ich-Bewusstseins angesehen. Es ist sicher kein Zufall, dass zu eben dieser Zeit, d. h. in einem Alter zwischen zwei und drei Jahren, diejenige Entwicklung einsetzt, in der das menschliche Kind deutlich seine nichtmenschlichen Altersgenossen kognitiv und kommunikativ hinter sich lässt (vgl. Tomasello, 2002).
Die Entwicklung der Sprache beginnt mit dem Erfassen der affektiven und emotionalen Tönung der Sprache und der Sprachmelodie. Dies geschieht bereits vor der Geburt in der rechten Hemisphäre, die auch in den ersten Monaten nach der Geburt dominiert. Erst dann beginnt die linke Hemisphäre mit der temporalen Region, d. h. mit dem späteren Wernicke-Areal, aktiv zu werden. Das dem Broca-Areal gegenüberliegende rechtsfrontale Areal ist in seiner neuronalen Feinstruktur (z. B. der Dendritenlänge) bis zum zwölften Monat voraus. Zwischen dem zwölften und fünfzehnten Monat nimmt die Dendritenlänge linkshemisphärisch schneller zu, und zwischen dem vierundzwanzigsten und sechsunddreißigsten Monat nach der Geburt entwickeln sich rechte wie linke frontale Areale gleich schnell. Zwischen drei und sechs Jahren hingegen dominiert das linke frontale Areal, d. h. das Broca-Areal. Dies stimmt mit der dann stattfindenden schnellen Entwicklung einer syntaktischen Sprache gut überein.
Zusammengefasst sehen wir also, dass das limbische System und das subcorticale System der Verhaltenssteuerung (d. h. die Basalganglien) sich embryonal sehr früh und weit vor dem
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