Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
von Umwelteinflüssen verändert werden.
Die zweite Einflusskraft sind Eigentümlichkeiten der Hirnentwicklung, d. ;h. der Art, in der sich die für das Psychische zuständigen Hirngebiete ausbilden bzw. fehlentwickeln. Häufig sind dies Fehlentwicklungen der Großhirnrinde, insbesondere des Frontalhirns, oder des Hippocampus, seltener Defizite im Wachstum der anderen subcorticalen limbischen Zentren, zumal diese sehr schwere Beeinträchtigungen mit sich bringen würden. Zu den entwicklungsbedingten Faktoren gehört auch die Stärke der Bahnen zwischen den limbischen Zentren untereinander, z. ;B. zwischen Frontalhirn und Amygdala oder zwischen limbischen und kognitiven Zentren, die neuronale Verknüpfung innerhalb der einzelnen limbischen Zentren, sofern diese nicht erfahrungsbedingt geschehen, und schließlich die Ausbildung der neuromodulatorischen Systeme, von denen wir gehört haben. Die beiden Einflusskräfte Gene und Hirnentwicklung legen nach groben Schätzungen etwa 50 Prozent unserer Persönlichkeit fest (sie variieren je nach Merkmal zwischen 20 und 80 Prozent). Insbesondere bestimmen sie das Temperament einer Person ebenso wie in hohem Maße seine spezifischen Begabungen einschließlich seines Intelligenzgrades .
Eine dritte Einflusskraft sind die vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen affektiv-emotionalen Erlebnisse. Es ist, wie bereits erwähnt, inzwischen empirisch gut belegt, dass vorgeburtliche Erlebnisse, direkt oder über den Körper und das Gehirn der Mutter, einen Einfluss auf das limbische System des Ungeborenen ausüben. Das gilt insbesondere für Erlebnisse, die starke Stress-Zustände hervorrufen, etwa im Zusammenhang mit Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch der Mutter, mit schweren körperlichen Misshandlungen oder schweren psychischen Belastungen. Von besonderer Bedeutung sind hier die Bindungserfahrung zwischen Säugling bzw. Kleinkind und Mutter (oder einer anderen primären Bezugsperson) und die ersten Erfahrungen mit dem sonstigen engeren sozialen Umfeld (Vater, Geschwister, Großeltern usw.). Der Säugling und das Kleinkind müssen die schwierige Balance zwischen Unabhängigkeit und Aufgehen im anderen, zwischen Trennung und Eins-Sein bewältigen. Fehlentwicklungen münden entweder im Narzissmus, d. ;h. einer krankhaften Übersteigerung des Ich, die in Selbstüberschätzung, ständiger Sucht nach Wunschbefriedigung bis hin zum Größenwahn enden kann, oder in einer Verkümmerung des Ich, die in einen völligen Rückzug, in Hilflosigkeit und Abhängigkeit von den anderen einmündet. Diese prägenden frühen Einflüsse der ersten Lebensjahre machen rund 30 ;Prozent unserer Persönlichkeit aus.
Im späteren Kindesalter und in der Jugend kommen dann als vierte Einflusskraft die sozialisierenden Vorgänge im weiteren Sinne hinzu, und zwar über weitere Verwandte, Freunde, Schulkameraden, Lehrer und Kollegen. Hier lernen wir dasjenige zu tun, was wir im sozialen Kontext für richtig halten bzw. halten sollen. Unsere bewusste Persönlichkeit ist immer eine soziale bzw. sozialisierte Persönlichkeit; sie entwickelt sich vornehmlich im späteren Kindesalter, während der Pubertät und in den frühen Erwachsenenjahren teils im Rahmen der Vorgaben der zuvor genannten Faktoren, teils übernimmt sie – wenngleich in beschränktem Maße – Korrektur- und Zügelungsfunktionen und mildert die egoistischen Triebe der subcorticalen limbischen Zentren ab. Es wird allgemein angenommen, dass diese Art von Sozialisation weniger stark ist und ungefähr 20 Prozent unserer Persönlichkeit ausmacht. Dies vollzieht sich im Wesentlichen in dem Rahmen, den die ersten drei Einflusskräfte vorgeben.
Wir sehen also, dass die Persönlichkeit eines Menschen sich nicht nur aus vielen verschiedenen Merkmalen zusammensetzt, welche die »big five« ausmachen, sondern dass alle diese Merkmale – wenngleich in ganz unterschiedlicher Weise – von den Einflüssen der Gene, der Gehirnentwicklung, der frühen Bindungserfahrung und der frühen Sozialisation geformt werden. Bemerkenswert ist die geringe Rolle, welche unsere kognitiv-intellektuellen Fähigkeiten hierbei spielen. Wir können eine klare und vernünftige Einsicht in bestimmte Sachverhalte haben und uns dennoch unter dem Einfluss der drei limbischen Ebenen ganz anders verhalten.
Das hier vorgestellte Modell beendet endgültig die alte Kontroverse zwischen »Anlage« und »Umwelt« ebenso wie diejenige zwischen »Individualität« und
Weitere Kostenlose Bücher