Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Unfall, Erkrankung oder einen Schlaganfall verletzt wurde. In ungünstigen Fällen kann dadurch eine friedliche, offene und liebenswürdige Person zu einem egozentrischen und rücksichtslosen Menschen werden, wie dies der amerikanische Hirnforscher Antonio Damasio bei dem amerikanischen Ingenieur Phineas Gage anschaulich beschrieben hat (Damasio, 1994). Dies nennt man in der Neuropsychologie eine »erworbene Psychopathie«.
Die Sache wird dadurch verwickelt, dass man auch »Psychopathen« findet, die keinerlei grob-anatomische Fehlentwicklungen oder Schädigungen aufweisen, deren Hirndefizite also auf feineren Ursachen beruhen müssen. Dies betrifft interessanterweise überwiegend solche Kriminelle, die sich nicht haben »erwischen lassen« und auf die man natürlich nur per Zufall oder privater Suche trifft, wie dies der amerikanische Forscher Adrian Raine kürzlich getan hat. Diejenigen kriminellen Psychopathen hingegen, die erwischt wurden, hatten laut Raine durchweg angeborene oder erworbene Schädigungen im limbischen Frontalhirn (sie waren entsprechend so »dumm«, sich erwischen zu lassen!). Andererseits gibt es auch Personen, die solche Schäden haben, aber nicht zu Psychopathen geworden sind. Wir müssen in solchen Fällen annehmen, dass andere Hirnteile die Funktionen der geschädigten Hirngebiete übernommen haben.
Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn vorgeburtlich oder während der Geburt (etwa durch Sauerstoffmangel oder mechanischen Druck hervorgerufen) die Ausbildung der linksseitigen Sprachzentren beeinträchtigt wurde; dann können rechtsseitig entsprechende Großhirnareale »umdeterminiert« werden. Bekanntlich hängen die Händigkeit und die Hemisphärenseitigkeit der Sprachzentren miteinander zusammen (wenngleich nicht strikt). Deshalb findet man bei den Rechtshändern fast ausnahmslos die Sprachzentren linkshemisphärisch, während etwa bei der Hälfte der Linkshänder die Sprachzentren auf beiden Seiten oder auf der rechten Seite zu finden sind. Man nimmt an, dass dies eine Folge von Entwicklungsstörungen der für die linke Hemisphäre genetisch vorgesehenen Sprachzentren ist. Es gehört offenbar zu unserem genetischen Schicksal, ob und in welchem Maße Fehlentwicklungen und Schädigungen unseres Gehirns ausgeglichen werden.
Die dritte Ebene ist dynamischer als die zweite und damit in höherem Maße veränderbar. Wir können in früher Kindheit in der einen Weise sozialisiert werden und in unserer Jugend in einer anderen. Auch im späteren Leben sind wir begrenzt in der Lage, uns in unserem sozialen Verhalten an neue Umgebungen anzupassen, während unser Temperament und unsere emotionale Konditioniertheit weitgehend unbeeinträchtigt bleiben. Die zweite und die dritte limbische Ebene können sich durchaus auch gegeneinander entwickeln und uns emotional spalten. Manchmal fühlen wir, wie unser Egoismus uns in die eine Richtung drängt, unser soziales Gewissen aber in eine andere. Es kommt dann zu erheblichen innerpsychischen und motivationalen Konflikten.
Die vierte, rational-kommunikative Ebene entwickelt sich parallel zur oberen limbischen Ebene, aber in etwas schnellerem Tempo. Kinder können schon mit sechs Jahren, also mit Schulbeginn, ziemlich intelligent sein, während ihr Gefühlsleben noch sehr »infantil« und ihre Sozialisation noch gering ausgebildet ist. Das macht sie zu wahren Tyrannen ihrer Umgebung. Auch später, besonders während der Pubertät, hinken die emotionalen und sozialen Kompetenzen typischerweise der intellektuellen Kompetenz hinterher. Glaubt man den Intelligenz- und Begabungspsychologen, so ist das Gehirn eines Fünfzehnjährigen am intelligentesten, aber zur Vernunft kommt er erst viel später, d. ;h. mit fünfundzwanzig bis dreißig Jahren – oder noch später, wenn überhaupt.
Wir stoßen hier auf eines der merkwürdigsten Dinge der menschlichen Persönlichkeit, nämlich das mögliche Auseinanderfallen (»Dissoziieren«) von Verstand und Vernunft. Diejenigen Hirnzentren, die für Verstand und Intelligenz zuständig sind, haben mit denjenigen Zentren, die unsere soziale Vernunft steuern, wenig Kontakt. Ein intelligenter Mensch muss nicht vernünftig sein; vielmehr kann er – wie ein erfolgreicher Krimineller – seinen ganzen Verstand darauf verwenden, raffiniert vorzugehen und sich nicht erwischen zu lassen. Die krassesten Fälle des Auseinanderfallens von Verstand und Vernunft finden wir wiederum bei den Psychopathen. Diese sind oft nicht nur ziemlich
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