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Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Titel: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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griechischen Philosophie den christlichen Gott gegebenenfalls als Verkörperung des »Logos« sah (man denke an den Beginn des Johannes-Evangeliums). Der große Auftritt des Verstandes kam mit der Neuzeit und der rasanten Entwicklung von Technik, Mathematik und Naturwissenschaft, und der ebenso große Auftritt der Vernunft mit dem Zeitalter der Aufklärung, die in der Philosophie Immanuel Kants ihren Höhepunkt erreichte. Für Kant wie für die antiken griechischen Philosophen waren Verstand und Vernunft die höchsten, ja göttlichen Gaben, für Gefühle hatte er wenig und für Leidenschaften überhaupt nichts übrig. Leidenschaften vergiften nach Kant die Seele, und über die Gefühle sagte er, man vermisse nichts, wenn diese im Menschen ganz abstürben. Kant war ein Stoiker in höchster Ausprägung, und diese in unseren Augen krasse Haltung mag ihre psychopathologischen Wurzeln gehabt haben (obgleich er von manchen Zeitgenossen als »warmherzig« geschildert wurde). Diese »Diktatur des Verstandes und der Vernunft« hat bis in unsere Zeit hinein ihre pädagogischen Auswirkungen gehabt, insbesondere in der Vorstellung, dass Selbstbeherrschung, Tugend und Unterdrückung der Gefühle der Kern jeglicher Erziehung seien.
    Die zweite große spätantike Strömung, die Epikureer (benannt nach dem Philosophen Epikur), behaupteten zwar nicht das genaue Gegenteil der stoischen Lebenshaltung, aber sie sahen das Streben nach körperlicher und geistiger Lust nicht als verwerflich, sondern als höchstes Lebensziel an. Allerdings meinten sie, anders, als man häufig meint, wenn man heute von »Epikureertum« redet, nicht hemmungslose Bedürfnisbefriedigung (genauer »Hedonismus« genannt), sondern das Streben nach möglichst langfristiger Lust. Diese – so erkannten sie zu Recht – ist mit rein körperlicher Bedürfnisbefriedigung nicht zu erreichen, denn sie führt nur zu sehr flüchtiger Lust. Längerfristige Lust ist nur durch geistige Genüsse wie Einsicht, Kunst und Wissenschaft zu erreichen, genauer durch eine heitere Ruhe, die dem Leben die besten Seiten abgewinnt, so wechselhaft es auch sein möge. Man sieht hier durchaus gewisse Übereinstimmungen zwischen Stoikern und Epikureern, der eine nimmt das Leben eher stoisch, der andere heiter gelassen.
    Richtig emotional im »Abendland« wurde es dann zweimal: In der Epoche von »Sturm und Drang«, die der Klassik vorherging und deren Höhepunkt Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« als ein einziger Triumph des Weltschmerzes ist, und in der Romantik, die neben den Gefühlen und Leidenschaften besonders auch die »dunklen Seiten der Seele« bis hin zum Dämonischen schilderte – man denke nur an die Erzählungen und Romane von E. T. A. Hoffmann, Balzac und Poe. Gar nicht zufällig begann man in der Philosophie, der Psychologie und der Medizin die Welt der Gefühle und des Unbewussten zu entdecken, vom Philosophen Schleiermacher über den Arzt Carus bis hin zur Psychoanalyse Freuds als großem Höhepunkt dieser Entwicklung. In dieser Weltanschauung des »Gefühl ist alles« sind Verstand und Vernunft nur der Wurmfortsatz des (überwiegend unbewussten) Emotionalen und dienen höchstens zur nachträglichen Rationalisierung der unbewussten Vorgänge und Entscheidungen der Seele. Es ist eine Ironie der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, dass es eines der scharfsinnigsten und aufgeklärtesten Geister, nämlich Sigmund Freuds, bedurfte, um der Emotionalität und dem Unbewussten zu ihrem Recht zu verhelfen.
    Diese anti-rationale romantische Bewegung ging allerdings lange Zeit an der Wissenschaft völlig vorbei, und zwar auch
an denjenigen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dem Geistig-Psychischen beschäftigten. Psychologie und Neurowissenschaften studierten mit großer Geduld die Funktion der Sinnesorgane und die Wahrnehmungsprozesse, sehr viel später – d. ;h. beginnend mit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – interessierte man sich für die kognitiv-geistigen Prozesse wie Denken, Verstehen, Erinnern, Vorstellen und Handlungsplanungen, und erst ab Mitte der achtziger Jahre begann man sich ganz allmählich mit den Gefühlen zu beschäftigen, und die Ergebnisse dieser »Emotionsforschung« werden erst in unserer Gegenwart allgemeiner bekannt.
    Natürlich hat es immer Leute – in der Wissenschaft wie im Alltag – gegeben, die rieten, man solle eher seinen Gefühlen bzw. seinem Herzen folgen als nur seinem Verstand. Die Film- und Fernsehindustrie lebt

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