Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pesch, Helmut W.

Pesch, Helmut W.

Titel: Pesch, Helmut W. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Kinder der Nibelungen
Vom Netzwerk:
und -brunnen hier in der Umgebung«, begann Siggi. »Sieh dir die Inschrift an. Die ist aus dem letzten Jahrhundert, sagt Vati, und der ist Architekt, der ver-steht was davon. Damals hat man die Nibelungen und alles Germanische mit einem Heiligenschein belegt. Man wollte damit die Nation erhöhen, oder so was«, gab Siggi die Erklärungen seines Vaters wieder. »In diese Zeit fällt auch die große Oper von Richard Wag-ner. Ich hab’ mal versucht, mir Siegfried anzuhören; die Oper, mein’
    ich. Hat mir aber nicht gefallen.«
    Hagen nickte und sah wieder auf den Brunnen.
    »Du wirst«, sagte Siggi mit einem Grinsen, »mich doch nicht gleich erschlagen?«
    Hagen drehte sich um. Die Atmosphäre schien sich für einen Moment zu verdüstern. Irgendetwas geschah mit Hagen. In Siggis Augen schien er zu wachsen; sein Lächeln wirkte bedrohlich.
    »Einmal ist keinmal«, kam es aus Hagens Mund, doch Siggi schien es, als spräche nicht der neue Freund, sondern jemand anderes. Selbst seine Stimme schien viel tiefer zu sein, als Siggi sie in Erinnerung hatte.
    Hagen kam auf ihn zu, die Faust erhoben. In Siggi kroch die Angst hoch. Auch er ballte seine Fäuste, mehr aus Hilflosigkeit und Furcht als aus Zorn.
    Gunhild war verwirrt; sie empfand nicht das Gleiche wie Siggi, aber sie fühlte, dass sich etwas verändert hatte. Sie sah Hagen, wie er auf Siggi zuging. Er wirkte irgendwie unheimlich, obwohl er lä-
    chelte. Siggi sah ängstlich aus, aber auch er machte den Eindruck, als wollte er gleich zuschlagen. Hier passierte etwas, das so nicht geschehen durfte.
    Sie musste etwas tun, bevor die beiden sich in die Haare kriegten.
    Die Jungen waren nur noch zwei Schritte getrennt. Es würde zum Kampf kommen – und irgendwie schien es Gunhild, dass ihn beide nicht wollten, dass sie von einer fremden Macht in diese Auseinandersetzung getrieben wurden –, wenn sie sich nicht gleich etwas einfallen ließ.
    »Kommt!«, rief Gunhild aus und packte die beiden an den Händen. Die Fäuste öffneten sich und griffen zu. Fast schien es, als seien Hagen und Siggi aus einem Traum erwacht. »Es heißt, wenn man dreimal um den Brunnen herum tanzt, kann man sich was wünschen.«
    Der Bann, der beide Jungen eben fast in eine Keilerei getrieben hatte, schien gebrochen. Beide lachten, als Gunhild mit ihnen unter lautem Gesang um den Brunnen sprang.
    »Wer einmal um den Brunnen geht, der darf sich etwas wünschen!«, sangen sie laut. Gunhilds langer Zopf wippte im Takt. Ihre Hände hielten die Jungen fest, die ausgelassen mittanzten, als wäre nichts passiert.
    »Wer sich was wünschen will, muss noch mal um den Brunnen hin!«, sangen sie während der zweiten Runde. Dabei wurde ihr Gelächter immer ausgelassener, und alles war wieder so wie oben auf dem Berg, als sie mit einem Affenzahn und wild kreischend durch die Hohlwege geradelt waren, Gunhild vorneweg, Hagen dicht auf und Siggi, der immer ein bisschen ängstlicher war, mit gebührendem Abstand.
    Die dritte Runde begann, und Gunhild gab den dritten Vers des alten Aberglaubens vor, und die Jungen fielen begeistert ein. »Wenn dir soll ein Wunsch geschehn, musst dreimal um den Brunnen gehn!«
    Ausgelassen tanzten die drei Hand in Hand den Reigen. Noch vier, drei, zwei Schritte, dann war ihr Tanz zu Ende, und dem Aberglauben gemäß wurde ihnen ein Wunsch erfüllt.
    Plötzlich, kaum dass sie die letzte Runde beendet hatten, gab es einen Donnerschlag, der den Himmel zerriss und die Erde erschütterte. Der Hall war betäubend. Die drei Kinder warfen sich am Brunnen in Deckung, und alle zitterten am ganzen Körper. Die beiden Jungen und das Mädchen hielten sich eng umschlungen und drückten sich aneinander. Jeder suchte sich selbst und zugleich die anderen zu schützen. Sie hatten sich fürchterlich erschreckt, wagten kaum zu atmen.

    Doch kein Regen prasselte auf sie nieder, kein Blitz folgte, und als Gunhild den Kopf hob, konnte sie den Himmel über der Lichtung sehen. Er war blau. Kaum ein Wölkchen trübte die Sicht.
    »Was … was war das?«, fragte Siggi zögernd.
    »Vielleicht hat ein Flugzeug die Schallmauer durchbrochen …«, versuchte Hagen eine Erklärung.
    »Vielleicht …«, entgegnete Gunhild zögernd. »Aber das müsste so nahe dran gewesen sein, dass wir es noch hören müssten.«
    Die drei Kinder kauerten immer noch im Schatten des Brunnen und wagten es nicht, sich zu bewegen.
    »Ob es etwas mit unserem Tanz zu tun hat. Ein Geist vielleicht –«, wagte Siggi zu sagen, wurde aber

Weitere Kostenlose Bücher