Pestmond (German Edition)
wissen, doch er hatte ein wahrhaft würdiges Grab für Abu Dun gefunden.
Da die Sonne noch nicht sehr hoch stand, warf die berggroße verwitterte Ruine einen langen Schatten, den die Hitze des Tages noch nicht erobert hatte. Dorthin trug Andrej Abu Dun und tat so, als müsste er ihn zu Boden legen, um neue Kräfte zu schöpfen. Doch Hamed sah ihn an, als würde er ihm die gespielte Schwäche nicht abkaufen. Warum sollte er auch? Schließlich hatte Andrej den leblosen Nubier, der doppelt so viel wog wie er, eine gute halbe Stunde lang durch die Sonnenglut getragen, ohne eine einzige Pause einzulegen oder auch nur einmal langsamer zu werden. Aber die Blicke, mit denen er Andrej nun maß, hatten sich verändert. Andrej war nicht sicher, ob er wirklich Angst darin las, aber es war zumindest etwas, das ihr sehr nahe kam.
Die Erkenntnis stimmte ihn traurig. Der angebliche Hamed war seit langer Zeit der erste Mensch gewesen, der freundlich zu ihm war und ihm ohne Wenn und Aber geholfen hatte, und er dankte es ihm, indem er ihn ängstigte.
»Ich danke dir, dass du mich hergebracht hast«, sagte er. »Aber das letzte Stück gehe ich lieber allein.«
Hamed nickte sehr ernst. »Ich werde hier auf dich warten. Meine alten Knochen werden es mir danken, wenn ich dich nicht dort hinaufbegleite.«
»Du musst das nicht tun«, erwiderte Andrej.
Hamed verzog den Mund zu einem flüchtigen Lächeln. »Was? Nicht mit dir dort hinaufklettern? Ich weiß.«
»Auf mich warten. Du hast schon mehr für mich getan, als ich erwarten kann.«
»Würdest du den Weg in unser Dorf denn allein finden?«
»Den Weg in dein Dorf?«
»Es ist das einzige im Umkreis von zwei Tagesmärschen«, sagte Hamed. »Es sei denn, du willst zurück in die Richtung, aus der ihr gekommen seid.«
»Nein«, sagte Andrej. Das hatte er ganz gewiss nicht vor. »Und wenn ich ehrlich sein soll, dann klingt die Aussicht auf eine Nacht in einem richtigen Bett und einen Schluck Wasser sehr verlockend. Aber ich kann euch nicht bezahlen, und ich will euch auch keine Schwierigkeiten machen.«
»Geh und kümmere dich um deinen Freund«, sagte Hamed, als wäre das Antwort genug, um alle seine Einwände zu entkräften. »Über alles andere reden wir später.«
Andrej war zu müde, um weiter zu diskutieren. Fast fürchtete er, es könnte ihm gelingen, Hamed davon zu überzeugen, seine Einladung zurückzunehmen. Vielleicht würde er mit ihm gehen, vielleicht auch nicht, aber jetzt war nicht der Moment, um das zu entscheiden. Er nickte nur noch einmal stumm, hob Abu Dun wieder hoch und machte sich daran, die zerklüftete Flanke des gemauerten Berges hinaufzusteigen.
Sein Vorhaben erwies sich als weit schwieriger, als er erwartet hatte, was nicht nur an Abu Duns enormem Gewicht lag und dem Umstand, dass er praktisch freihändig klettern musste. Was aus der Entfernung wie massiver Fels ausgesehen hatte, bestand in Wahrheit aus tausend Jahre alten Lehmziegeln, denen ungezählte Tage in brutaler Sonnenglut und ebenso viele Nächte in klirrender Kälte nicht nur die Form genommen hatten, sondern auch die Festigkeit, sodass sie ein ums andere Mal unter seinem Gewicht zerbröselten. Ein paarmal brach sein Fuß durch in verborgene Hohlräume, und noch öfter lösten sich unter seinen Schritten gefährliche Lawinen, die ihn mit sich in die Tiefe zu reißen versuchten.
Andrej wusste, auch ohne zu Hamed zurückzusehen, dass sein unbekannter Wohltäter aufmerksam beobachtete, wie vermeintlich mühelos er diesen Aufstieg bewerkstelligte.
Die erste Höhle fand er auf halbem Weg nach oben, vielmehr war es ein halb eingestürzter Raum, dessen Außenwand Wind und Sonnenhitze weggenagt hatten. Nicht einmal Andrejs scharfe Augen waren imstande, mehr als Schatten zu erkennen, doch was er sah, erschien ihm wenig vertrauenerweckend und Abu Dun als letzte Ruhestätte schon gar nicht angemessen.
Also kletterte er weiter, inspizierte eine zweite Öffnung, verwarf auch diese und blieb dann stehen, als ein Stein unter seinem Fuß ins Rutschen kam und eine schmale Lücke freigab, hinter der Schatten den Weg tiefer in den gemauerten Berg hineinwiesen.
Auch um Hamed nicht noch weiter zu beunruhigen, der immer noch unter ihm stand und jede seiner Bewegungen verfolgte, legte er Abu Dun behutsam ab und begann dann sehr viel weniger behutsam, die Öffnung in der verwitterten Mauer zu erweitern. Schon nach wenigen beherzten Griffen blickte er auf den Boden eines drei Meter tiefer liegenden Raumes hinab.
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