Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)
gewirkt haben. Kinder nahmen keinen Stock in die Hand. Sie schlugen nicht, sie wurden geschlagen.
Ich war wild, aber ich war kein Tier. Der große Unterschied zwischen mir und meinen Kameraden war, dass ich geliebt wurde.
In Familien mit zehn oder elf Kindern war Liebe ein rares Gut. Kinder starben viel zu häufig, um das Risiko einzugehen, sie zu lieben. Sie wurden gestillt, als eines unter vielen. Susannah hatte andere Kinder geboren, aber sie waren bereits tot gewesen, als sie auf die Welt kamen, oder nachdem sie ein- oder zweimal nach der Brust geschrien hatten. Ich habe mich nie gefragt, warum ich allein so stark und kräftig war, so zum Leben entschlossen.
Und so hatten sie sich zu sehr um mich gesorgt, denn ich war alles, was sie hatten, und das machte mich selbstsüchtig und kühn, als ich Mr Blacks Stock packte. Ich empfand ein sonderbares Gefühl der Macht, als ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern sah. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn in diesem Moment nicht ein hämmerndes Klopfen an der Tür zu hören gewesen wäre.
Mein Mut verließ mich. Ich dachte, es sei der Constable, der gekommen war, um mich nach Paddington Fair zu bringen. Mein Mund wurde trocken, und der Stock fiel mir aus der Hand. Mr Black ergriff ihn, während George die Tür öffnete. Es war nicht der Constable, sondern der Junge des Fährmanns.
Das Boot würde in einer halben Stunde ablegen, um mit der Flut auslaufen zu können. Kurz angebunden erklärte Mr Black, dass er dort sein würde. Sein Zorn schien verflogen zu sein, und er sah mich nicht an, als George den Kasten packte und Susannah mir das Gesicht abwischte und unter Tränen flüsternd auf mich einredete, mich bei dem Herrn zu entschuldigen. Doch das würde ich nicht tun. Ich sollte mich bei ihm entschuldigen, weil er mich geschlagen hatte?
»Ich sagte Euch, dass es Zeitverschwendung ist, hierher zu kommen, Master«, grummelte George. »Der Junge hat den Teufel im Leib!«
Während Mr Black brütend dasaß und nichts sagte, wandte George sich mit einer bitteren Rüge an Susannah. »Freundlichkeit zum Leib, Madam, ist Grausamkeit für die Seele.«
»Es tut mir leid, Sir«, erwiderte sie stockend. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist … normalerweise ist er so ein gutes Kind.«
Sorgenvoll schüttelte er den Kopf. »Nein, Madam. Ihr seid zu gut zu ihm. Jedes Mal, wenn Ihr ihn verhätschelt, bringt Ihr ihn einen Schritt näher zur Hölle.«
Susannah stieß mich fort, als würde ich bereits brennen. George bedachte mich mit einem letzten abschätzigen Kopfschütteln, hob den Kasten auf und öffnete die Tür, doch Mr Black rührte sich nicht.
»Master. Das Boot.«
Immer noch sagte er nichts, sondern sah mich an. Sein Blick schien sich bis tief in meine Seele zu bohren. Dann schaute er auf seine mit Tinte bespritzte Manschette und sprang auf, als wollte er mich erneut schlagen. Trotz der Gefahr für meine Seele zog Susannah mich an sich.
»Sir, es gibt hier ein Waschweib, das eine sehr seltene Seife …«
»Sei still!«, schrie er, so laut, dass etwas Ruß vom Kamin rieselte. »Der Junge ist voller Tatkraft«, sagte er.
»Aye«, sagte George. »Der Kraft des Bösen.«
Mit kaltem Blick brachte Mr Black ihn zum Schweigen. »Ich nehme ihn«, sagte er.
Es dauerte eine Weile, bis George sich von seiner Überraschung erholt und seine Stimme wiedergefunden hatte. »Master! Sein Benehmen ist ebenso schlecht wie sein Lesen.«
»Beides kann man ihm beibringen«, sagte er, stupste mich mit dem Stock an, als sei ich eines der Kälber in Smithfield. »Komm! Die Flut wartet nicht.«
Erst später lernte ich, dass Mr Black ewig brauchte, um zu einer Entscheidung zu kommen, dann jedoch verlangte, dass sie auf der Stelle umgesetzt wurde.
»Besitzt er noch andere Kleidung, die er tragen kann, bis man Maß bei ihm genommen hat?«, blaffte er Susannah an.
»Nur das, was er am Leibe hat, Sir.«
»Keine Stiefel?«
»Stiefel? Sir, ich wollte«, stammelte sie, »ich meine, ich wollte schon immer …«
»Keine Stiefel also. Eilt Euch, Weib, um Gottes Willen!« Wir waren bereits in der Poplar High Street, und Susannah war für etwas zurückgerannt, das sie in ein Tuch gewickelt nun bei sich trug. »Bestell Stiefel, zwei Paar, und eine Uniform bei Mr Pepys«, befahl Mr Black George barsch.
Erst als wir am Hafen ankamen, begriff ich, was geschah. Susannah war vor Freude wie von Sinnen, was mich vollkommen verwirrte, denn ich glaubte, nein, ich wusste, dass sie mich
Weitere Kostenlose Bücher